Schule des Rades
Arnold Keyserling
Philosophie als Handwerk
Das Streben nach Können
Philosophie gilt heute als akademische Disziplin, die zwischen Wissenszweigen vermittelt und sie aufeinander abstimmt. Doch im sokratischen Ursprung ist sie etwas anderes: das Streben (Philia) nach Können (Sophia). Weisheit ist nicht Wissensstrategie, sondern Beherrschung des gesamten Wissens und Tuns aus der inneren Mitte der Spontaneität heraus. Sokrates, der weiß, dass er nichts weiß — dass kein Wissen ihn bedingt — ist der weiseste aller Griechen; dieser Spruch des Orakels von Delphi nahm Sokrates als religiösen Auftrag, nämlich zu zeigen, dass kein Inhalt, kein Wissen, das Wesen verdrängen darf.
Um dieses Nicht-Wissen zu erreichen, gibt es Vorbedingungen, die nicht in der Wissenschaft liegen, sondern im Wissen hinter dem Wissen — dem Instinktwissen im Gegensatz zum strategischen Wissen. Sokrates bezeichnet dieses durch folgende Begriffe:
- Die Anamnese, das Aufdecken der Begriffe, die als Organe des Tuns wirken; also die Klaviatur der Funktionen (empfinden, denken, fühlen und wollen) und Bereiche (Körper, Seele, Geist), welche aus der Mitte her gesteuert werden, aus dem inneren Nichts, der Leere der Aufmerksamkeit.
- Die Methexis, die Teilhabe, das Ersetzen einer falschen Weltanschauung, die die Welt durch eine ideologische Scheinwelt verdoppelt, durch die Einstimmung in die wirkliche Welt, die die geistige Erfahrung genauso umschließt wie die physische, welche durch die Wissenschaften zugänglich wird.
- Die Maieutik, die Methoden und Wissensarten, die das innere Selbst des Menschen vom
Zeugen
, der erweckt werden muss, in denTäter
verwandeln. - Die Poetik, die Schaffung des eigenen Lebenssinnes, da das gesamte Wissen zur Grammatik des persönlichen Ausdrucks wird, welcher im Verein mit der Dichtung anderer am Großen Werk der Menschheit mitwirkt.
Von diesem inneren höheren Selbst aus gesehen ist alle Motivation ein Außer-selbst, eine Gegebenheit wie die Welt der Erfahrung. Man begegnet Motiven, und solange man sie nicht erkannt hat, halten sie einen vom Erwachen, der Maieutik, ab.