Schule des Rades
Arnold Keyserling
Philosophie als Handwerk
Die große Gemeinsamkeit
Ich möchte im folgenden meine Motivation darstellen — soweit sie mir nicht durch den blinden Fleck in meinem geistigen Auge verstellt ist — warum ich den Kurs des philosophischen Handwerks 1985 in Wien ins Leben gerufen habe (ein zweiter Kurs beginnt Ende Oktober) und zu dem ich die geschilderten vier theoretischen Disziplinen beitrage, deren Ausformung viel mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun hat.
Es war erstaunlich zu erleben, dass mein Bruder und ich scheinbar ganz verschiedene Eltern haben: Wie er sie sieht, hat mit meiner Vorstellung wenig zu tun. Sicher spielt es auch eine Rolle, dass ich als zweiter Sohn eine andere Einstellung habe wie der erste, bei dem laut Alfred Adler die Auseinandersetzung mit dem Vater im Vordergrund steht, während der zweite Sohn Bruder und Vater erlebt und daher mehr auf die Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft gerichtet ist. Tatsächlich habe ich mich nicht im Gegensatz zu meinem Vater gespürt, sondern ihn als Ansatz, als Arbeitsfeld gesehen. Nach Verlust seiner Güter in Estland gründete Hermann Keyserling, aufgrund des Erfolges seines Reisetagebuchs eines Philosophen
, über Einladung des Großherzogs von Hessen 1924 seine Schule der Weisheit
in Darmstadt, deren Ziel es war, den Sinn all dessen zu klären, was dem Leben in früheren Zeiten Halt gab, aber durch vorläufige Kritik im Zusammenhang mit politischer Revolution zerstört worden war — den Sinn der Ethik, der Religion, der traditionellen Lebensformen, der Mythen und Märchen. So war es vielleicht die Motivation meines Vaters, einerseits die erinnerte Schönheit des Lebens seiner Jugend zurückzubringen, andererseits aber eine Welt des planetarischen Bewusstseins vorzubereiten, worin die bisher ausschließlichen Kulturen nicht mehr im Gegensatz zueinander, sondern ergänzend stünden.
Desgleichen bilden geistige Menschen keine ausschließlichen Richtungen, sondern weisen in ihrer Einzigartigkeit auf die große Gemeinsamkeit, auf die kosmische Gattung Mensch hin, die allein ihnen allen ihren sinnvollen Platz zeigen könnte. Daher wäre es unmöglich, in einem Volk, einer Kultur oder einer Religion einen absoluten Wert zu finden: sie bilden das Material der Lebensgestaltung jedes einzelnen. Der erste Schritt zum wahren Bewusstsein wäre, sich mit fremden Menschen und Dingen zu polarisieren (die Gegensätzlichkeit herausarbeiten) und sie nicht zu bekämpfen.
Vielleicht der stärkste Eindruck meiner Kindheit war es, bedeutende Menschen und ihre Ausstrahlung zu erleben, wenn auch im vorlogischen Bewusstsein — C. G. Jung, Leo Frobenius, Richard Wilhelm, Paul Tillich, Max Scheler, Berdjajew, Arseniew, um nur einige zu nennen. Mein Vater hatte die seltene Begabung der geistigen Orchestrierung der Tagungen, wo keine Kompetition und Diskussion entstand, darinnen unterstützt durch die lautere Persönlichkeit des letzten Großherzogs von Hessen, der die europäische Vornehmheit in seiner Bereitschaft auch nach Verlust seiner Stellung, im absoluten Dienst am Mitmenschen verkörperte.
Schon als Kind war mir selbstverständlich, vielleicht im Zusammenhang mit meiner baltischen Herkunft, dass niemand je etwas werden könne, was er nicht potentiell ist, dass das Leben also keinen sozialen Aufstieg zu fiktiven Stellungen bedeutet, sondern ein Klären dessen, womit man in Zusammenhang mit anderen sinnvoll wirken kann; dass das, was für mich Sinn ist, einem anderen nützlich werden muss — wie etwa ein Schuhmacher seine Freude in der Herstellung der Schuhe findet, der andere sie aber nur tragen kann, wenn sie bequem sind und passen. Daher war ich der akademischen Bildung gegenüber misstrauisch, nur was ein Mensch mitteilen kann, ohne dass man sich in seine Welt als Schüler oder Adept hineinbegibt, gehört zur zwischenmenschlichen Welt.
Abhängigkeit sowohl Eltern gegenübeals auch Vorgesetzten im menschlichen Sinn halte und hielt ich für unmenschlich und zerstörend, weil ich sie selbst auf diese Weise erlebte. Der zweite Grund für meine Einstellung war die Familie meiner Mutter. Meine Großmutter, Schwiegertochter von Bismarck, erzählte mir in meiner Jugend immer wieder während der Ferien in Schloss Schönhausen, wie dessen Werk durch Wilhelm II. verraten worden war — keine Institutionen, sondern nur lebendige Menschen sollten die Verantwortung in der Welt tragen, weil sonst der einzelne in religiöser Sprache falschen Göttern diene, wie etwa der Fiktion des deutschen Reiches oder einer Weltanschauung. Macht von Menschen über Menschen durch Dinge und Institutionen wäre negativ, jeder sollte nur die Stellung haben, in der er sinnvoll wirken könne, und die er weder durch Alter noch durch Besitz erreiche, sondern durch Einklang mit der inneren Motivation.
Meine eigene Motivation war von Anfang an sinnlich: die Freude der Sinne sind für mich Tore zu allen anderen Freuden, welche Auffassung ich später in Indien wiederfand. Die Sinne sind der Ansatz des Verstehens, und alle Versuche, die Sinnlichkeit zu unterdrücken, führen in falsche Kultiviertheit — im Englischen noch besser mit dem Wort sophistication ausgedrückt — die den Menschen von seiner Echtheit abhält. Vertreter der bürgerlichen Kultur schienen mir ebenso unecht wie mondäne Veranstaltungen oder Feste ohne Sinn.
Kompetition war mir unverständlich, und als erste Gegnerschaft entstand in mir ein Hass gegen alle Erziehung, die mich in eine Form pressen wollte, die ich nicht als die meine spürte, besonders stark im damaligen deutschen Nationalsozialismus, wo Brutalität der Kinder als Männlichkeit gefördert wurde, und das zusammen mit einer falschen Romantik von Heldentum, die sich später als Psychopathologie entpuppte und ein entsprechendes Ende nahm.
Mein Glück war, bewusst im Gegensatz zur öffentlichen sozialen Struktur aufzuwachsen und dadurch gezwungen zu sein, mein Leben als eigenen Entwurf zu begreifen. Das Verhältnis zu den Eltern blieb distant — mein Vater behandelte seine Kinder, wie er sich ausdrückte, wie étranger de distinction
, und im Gegensatz zu den meisten Erziehungstheorien halte ich seine Einstellung für einen guten Ansatz, wenn man nicht Nachfolge sondern freie Menschen sucht.
Trotzdem war der Druck der Schule groß und führte mich in emotionelle Vereinsamung. Doch gerade diese half mir zum eigentlichen Durchbruch. Mit 14 Jahren las ich Paul Bruntons Schilderung seines Erlebens mit dem indischen Heiligen Ramana Maharshi: ich erlebte plötzlich eine innere Freude, die Gewissheit des transzendenten Seins, die mich seither nie mehr verlassen hat; und so sagte ich mir, die Schule geht vorbei. Versuch eines Studiums der Rechte scheiterte, und ich fand mich dann als Soldat und Dolmetscher, befreit in dieser Form gegenüber der Schulzeit und dem Pseudostudium, weil niemand etwas anderes von mir verlangte als höchst einfache, wenn auch stupide Tätigkeiten wie Wache stehen, Wäsche transportieren, den Hof säubern und dergleichen. Immer fand ich Zeit zum Lesen und zur Vertiefung in das, was mich beschäftigte. Einige Jahre hatte ich das Glück, in Belgien alle Radiosendungen hören zu müssen und Berichte darüber zu schreiben, da mir mehrere Sprachen geläufig waren, was mich zur Überzeugung brachte: nichts geschieht einem Menschen, was nicht zu seiner Lebenslinie gehört. Deshalb ist es unsinnig, über den Druck äußerer Umstände zu sprechen, es sei denn, man erkennt in ihm die notwendige äußere Hitze, um eine innere qualitative Wandlung zu erzeugen.