Schule des Rades
Arnold Keyserling
Philosophie als Handwerk
Zwischen Scharlatanismus und Wahnsinn
Beim Kriegsende erlebte ich den Zusammenbruch des dritten Reiches in Holstein; dies brachte mir die freudige Erkenntnis, dass eine gesellschaftliche Struktur, die man als bedrückend erlebt, über Nacht verschwinden kann. Was nachher von Osten und Westen und auch aus den restaurativen Bewegungen entstand, war allerdings nicht das, was ich ersehnte — aber so hatte ich die Gewissheit, dass es auch möglich sein könnte, eine Lebensform zu entwerfen, die mit der menschlichen Anlage zusammenstimmt, und alle Kultur und Geschichte als vorläufige Skizze einer künftigen Menschlichkeit betrachtet.
Mein Vater hoffte nach dem Zusammenbruch auf eine Wiedergeburt seiner Schule, zweifelte aber selbst daran und starb 1946. Für ihn war es ein Glück, denn der neue ökonomisch zentrierte Zeitgeist stand seiner Einstellung genauso feindlich gegenüber wie vorher der Nationalsozialismus. Jeder Versuch, auf einem der ausgetretenen Pfade zu einem Sinn zu kommen, stellte sich als unmöglich heraus. Ich beschränkte mich in der praktischen Arbeit auf Strategien des Überlebens, meine Frau brachte durch Schneiderei die notwendige materielle Grundlage, und so konnte ich mich auf eine lange Entwicklung vorbereiten. Kurze Besuche bei der philosophischen Fakultät zeigten mir, dass meine Einstellung für die offiziellen Vertreter zwischen Scharlatanismus und Wahnsinn angesiedelt war, als was man auch meinen Vater beurteilte. Dies berührte weder mich noch meine Mutter oder meinen Bruder; dank der Großzügigkeit des Magistrats der Stadt Darmstadt gelang es ihr, das Archiv meines Vaters zu klären und für künftige Forscher aufzubereiten.
1946, mitten in den Vorbereitungen zur Wiedereröffnung der Schule der Weisheit in Innsbruck, starb mein Vater. Wir waren für ihre Wiedereröffnung eingebürgert worden, ich musste also die Schule weiterführen, obwohl ich mich dazu noch nicht befähigt fühlte. Und da lernte ich etwas sehr Wesentliches: ist man einmal gegenüber der transzendenten Welt geöffnet, wie es mir mit Ramana Maharshi gegangen war, kommt die Offenbarung nicht mehr von innen, sondern durch äußere Geschehnisse, die man sich nicht zuschreiben kann. So war es mir einige Male im Krieg ergangen. 1943 erlebte ich in Brüssel in einer Vision das Rad, in dessen Mitte ich trat, und hatte keine praktischen Ängste mehr. Etwas später, bei Kriegsende, kam ich durch Zufall in den Besitz einer größeren Geldsumme, die es mir ermöglichte, meinem Vater einen Krankenhausaufenthalt zu verschaffen als Erholung vor dem Neubeginn. Wiederum durch Zufall hörte ich, dass ein Haus in Innsbruck herrenlos war, und es gelang mir, sowohl die Tiroler Landesregierung als auch die französische Besatzungsmacht zu überzeugen, es meinem Vater zur Verfügung zu stellen.
Wenn der richtige Zufall sich immer einstellt — genauso wie bei einem Tier, dessen Instinkt ihm die situationsgerechte Antwort gibt — wieso enden viele geistige Menschen tragisch? Weil sie meiner Auffassung nach das Zukommende nicht als Geschick betrachten, sondern einem vorgegebenen Plan folgen. Die Notwendigkeit, aus materiellen Motiven, wegen der Lebensmöglichkeit für meine Mutter und ihr Archiv die Schule weiterzuführen, war die Voraussetzung meines persönlichen Ansatzes. Als ich die Schule angehen wollte, erkannte ich, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte — obwohl ich die Schriften meines Vaters oft gelesen hatte — was ihre systematische Grundlage wohl sei. Ich begann ein halbes Jahr lang jeden Satz, der mir wesentlich schien, herauszuschreiben, doch im Frühjahr 1947 warf ich alles weg, und begann zu versuchen, wie ich den Sinn — mein Vater nannte seine Arbeit Sinnesphilosophie — bestimmen könnte.