Schule des Rades
Arnold Keyserling
Philosophie als Handwerk
Auf der Suche nach dem Wunderbaren
Die bürgerliche Welt betrachtet den Menschen von der Kultur her, in der er seinen Platz findet. Solcher funktioneller Kontakt war mir immer falsch erschienen, und nach meinem Erlebnis des Rades in Brüssel erkannte ich durch Zufall, dass es mir möglich war, aus der Hand eines Menschen seine Anlage und auch seinen bisherigen Weg, sowie seine Erwartungen zu verstehen. Ich begann mich auch mit der entsprechenden Tradition zu beschäftigen, aber sie schien mir unausgegoren, und so versuchte ich eine eigene Interpretation, ausgehend von den fünf Sinnen und beiden Händen, als nach innen und außen gewandt, eine Klaviatur der Begriffe zu erstellen, die als erste Veröffentlichung Urstimmung des Gemüts
1951 erschien. Mit dieser Arbeit verrannte ich mich nach einigen Monaten — ich baute eine Tafel der Inbegriffe, der Kombination zwischen den Sinnen und ihren Abstraktionen. Aber gerade in dem Augenblick, als ich nicht mehr weiter wusste, lernte ich wiederum durch einen Zufall
in Paris Gurdjieff kennen, von dem ich vorher nie gehört hatte.
Gurdjieffs Intensität und seine Güte überzeugte mich sofort, und ich blieb in seiner Nähe, übersetzte das Buch von Ouspensky Auf der Suche nach dem Wunderbaren
und gab sein Hauptwerk All und Alles
heraus. Hätte ich nicht in Innsbruck einen Verlag gegründet aus dem Grund, dass kein Verleger sich nach dem Krieg für die Bücher meines Vaters interessierte, hätte es keinen Kontakt gegeben; so fand ich in seiner Lehre über die Grammatik einen weiteren Ansatz meiner Arbeit.
Gurdjieffs Schule gefiel mir nicht, weil ich sie als Rückfall in die hierarchische Welt erlebte, und er bestand darauf, dass ich nicht ihr Mitglied werden sollte, sondern ein Freund bliebe. Sein Wissen war ungeheuer reich; gleichzeitig gab mir die Herausgabe die Möglichkeit, in Wien mein eigenes Institut, das Kriterion, aufzubauen und langsam zu versuchen, diesem seltsamen Wissen näherzukommen.
Gurdjieff war in den Worten Castanedas mein Wohltäter
. Ich hatte vor allem mich bei den Sinnen mit der Musik beschäftigt, und Gurdjieffs Lehren auf diesem Gebiet waren physiologisch und physikalisch falsch, lagen ihm auch gar nicht am Herzen. So lernte ich wieder durch Zufall
meinen zweiten Lehrer kennen, den Zwölftonmusiker Josef Matthias Hauer, in dessen Geist ich nun begann, das Rad zu begreifen und zu interpretieren. Um an der Musik weiter zu arbeiten, gingen meine Frau und ich nach Positano und lebten fünf Jahre in einem Kreis von Schriftstellern und Künstlern; so entstand unser erstes gemeinsames Buch Das Rosenkreuz
, was ganz auf der Musik gegründet war. Inzwischen hatte ich durch den Gurdjieff Schüler J.G. Bennett auch die praktische Arbeit Gurdjieffs kennengelernt und zweimal Erlebnisse, die mir Dimensionen des Traumes und des Atems und damit der Energie eröffneten. Das Buch hatte keinerlei Erfolg, und die Zukunft erschien praktisch aussichtslos. Doch da kam über Vermittlung eines Freundes eine Einladung nach Indien aufgrund der früheren Beziehung meines Vaters zu Rabindranath Tagore, der damals künftige Kinder meines Vaters (1920) eingeladen hatte, später in seine Schule zu kommen. Dieser Wunsch wurde von den Nachfolgern anerkannt, und so fuhren wir 1957 nach Indien, eingeladen für drei Monate, doch ungewiss, was danach geschehen würde.
Nach Vorträgen und Gastvorlesungen 1958 in Kalkutta gelandet, wusste ich wirklich nicht mehr, wovon wir leben sollten. Da fragte unsere Hauswirtin, ob ich nicht Deutsch lehren könnte, und finanzierte mir eine Anzeige in der Tageszeitung; bereits am nächsten Tag hatte ich fünf Schüler, und binnen kurzem waren wir an einer Volkshochschule beteiligt, wo wir pro Jahr 800 Schüler hatten. So kam ich mit 36 Jahren zur Erkenntnis meines eigentlichen Berufes, nämlich Lehrer zu sein, zuerst ganz normaler Sprachlehrer, etwas, das ich nicht geglaubt hatte zu können, weil mir persönlich das sehr schwer gefallen war. Doch jetzt verstand ich auch den Grund dafür: unsere patriarchalische Erziehung geht nie von der Anlage aus, sondern von fiktiven Zielen der Weltdichtung der jeweiligen Ideologie.