Schule des Rades
Arnold Keyserling
Philosophie als Handwerk
Menschwerdung
Kultur bedeutet dauernden Fortschritt, die Tradition ist ihr Feind, weil sie den einzelnen an sein Gedächtnis, an seinen Roboter bindet, und ihn somit zum geistigen Tod verdammt, zur Verhärtung und Mechanisierung. Jeder Mensch kann mit recht geringen allgemeinen Kenntnissen, die durch die Mittelschule (Realschule) vermittelt werden, am geistigen Abenteuer teilnehmen, sobald er es sich zutraut und nicht träge erklärt, etwas sei ihm zu hoch.
Doch die neue mathematische und naturwissenschaftliche Erziehung, durch die Computer und Programmierungslehren wird heute jedem klar, dass die Basis allen Lernens nicht die Kenntnis gleichsam bürgerlicher Gesetze, sondern die Kombinatorik aus Elementen ist. Seltsam war für mich, dass auf meinem Weg mir immer die richtigen Wissensinhalte begegneten, die mir einen neuen Schritt ermöglichten.
Doch das bloße Lehren genügte nicht mehr, ich selbst konnte den nächsten Schritt für mich weiter tun, wenn ich mit einer Gruppe zusammen an jener unbekannten Richtung arbeiten könnte, welche mir begegnet. Und so versuchte ich, das philosophische Handwerk in einen Kurs zu verwandeln, der im Laufe eines Jahres die entscheidenden Durchbrüche ermöglichen könnte, in Zusammenarbeit mit Freunden: Ich begann das Lehren der Maieutik in Wien nach meinem 63. Lebensjahr, also wieder zeitlich in Einklang mit dem astrologischen Lebenskreise. Diese Arbeit zwang mich, viele strategische Positionen aufzugeben. Was mich aber am meisten erstaunte, war, dass im gemeinsamen Lernen meine Tätigkeiten sich zu einem einzigen Strom zusammenfügten, und ich am Ende des Jahres imstande war, zu meinem ursprünglichen Ausgangspunkt von 1947 zurückzukehren: zur Erkenntnis, dass die Gesetze der Sinne das Gesetz des Sinne
sind. 1964 hatte ich im Auftrag des Unterrichtsministeriums in Wien ein Buch über den Wiener Denkstil verfasst, worin mir das Werk von Ernst Mach entscheidend schien: er hatte gezeigt, dass die Grundlage der Mathematik nicht im Geist oder einem fiktiven Weltgesetz, sondern in den Sinnen selbst liegen müsse. Jeder Sinn zeigt andere mathematische Verhältnisse, die z. B. für das Auge die Kriterien der peripheren und fokalen Vision zusammenfassen müssen. Ich erkannte, dass die sogenannte Esoterik nichts anderes ist als die Meisterung der den Sinnen inhärenten Gesetze, weil durch diese allein die Außenwelt und Innenwelt bewusst werden. Wie es Edmund Husserl, der Pionier der Phänomenologie, darstellte: Nichts ist im Wesen außer einer bestimmten Konfiguration von Sinnesdaten.
Die Sinnlichkeit ist nicht zu überwinden, sondern bildet die Brücke zwischen Diesseits und Jenseits. Gelingt es, alles Wissen auf die Metaphysik der Sinne zurückzuführen, werden jene seltsamen Wissenszweige zugänglich, die in anderen Kulturen das Ziel gebildet haben und in China sogar als Rezepte
gelehrt wurden: das Sehen zeigt das Rezept der Heiligkeit, das Hören jenes der Weisheit, das Tasten das der Magie, das Schmecken jenes der Mystik, und schließlich das Riechen und Sprechen jenes der Gnosis.
Doch sind dies keine Geheimlehren, sie sind bis ins letzte rational, haben ihre systemische Basis im Rad. Damit wurde der letzte theoretische Kurs, die Grundlagen des Denkens, für mich vollständig, und fand seinen Niederschlag in meinem Buch: Durch Sinnlichkeit zum Sinn
.
Die theoretische Grundlage des Handwerks der Philosophie war virtuell in meinem ersten Ansatz vorgegeben, da ich nach den Gesetzen der Sinne Ausschau gehalten habe. Es gibt Schritte zur menschlichen Norm die lehrbar sind. Doch ihr Ziel ist nicht ein höherer Seinszustand, sondern der Durchbruch zur persönlicher Arbeit am Großen Werk. Jeder einzelne ist potentiell Gott gleich, es kann geistig also keine Hierarchie geben. Aber diese Gleichheit als allgemein menschliches Niveau ist nur dann zu verwirklichen, wenn man nicht nach falscher Gemeinsamkeit sucht, sondern die Verschiedenheit der Menschen als Grundlage der Freundschaft und des Zusammenwirkens erkennt. So erlebe ich heute das philosophische Handwerk der Maieutik nicht nur als persönliche Freude erfüllten Daseins, sondern auch als Mitwirkung an einem historischen Schritt der Menschwerdung, der in der Wassermannzeit viele jener Sehnsüchte erfüllt, die frühere Zeiten im Begriff des Reichs des Heiligen Geistes oder der klassenlosen Gesellschaft ersehnten, aber wegen mangelnden Wissens nicht formulieren konnten und ideologisch vertraten. Nur der einzelne kann die Menschwerdung erreichen, und die Tatsache, dass er auch dabei scheitern kann, ist das eigentliche Drama der Geschichte — er braucht aber nicht zu scheitern!