Schule des Rades

Arnold Keyserling

Krankheit in verschiedenen Kulturen

Wir sind nicht allein auf der Welt

Ein Religionsphilosoph ist jemand, der glaubt, dass es Religion gibt, der aber nicht aus einem Bekenntnis an diese Fragen herangeht. Wie es der Ethnologe Malinowski einmal sagte, der Eingeborene hat immer recht.

Es ist sehr schwer zu sagen, ob unsere augenblicklichen Vorstellungen über die Welt in 100 Jahren nicht genauso belächelt werden, wie wir frühere Zeiten belächeln. Aber ich habe mir gedacht, es mag für Sie interessant sein, dass Sie ganz andere Begriffe von Gesundheit und Heilung kennenlernen, die in Afrika, bei den Indianern, in Indien, in Tibet, bei den Chinesen, auf Hawaii usw. herrschen. Dass dort Leute geheilt werden, ist kein Zweifel. Aber es gibt gewisse Grundbegriffe, die es den Europäern außerordentlich schwer machen, diese Dinge mit der Schulmedizin und mit der Wissenschaft in Beziehung zu bringen.

Sehr vieles, was an Auseinandersetzung zwischen der Schulmedizin und den alternativen Traditionen gekommen ist, kommt oft daher, dass diese Grundbegriffe nicht bekannt sind. Der erste Grundbegriff ist: Der Tod existiert und ist eine der wichtigsten Tatsachen im Leben.

Wenn man in Indien lebt, wie ich fünf Jahre dort gelebt habe, so ist der Tod allgegenwärtig. Ich habe hier in Wien noch keinen Toten gesehen, und das ist natürlich etwas anderes, wenn man den Toten dauernd vorbeigetragen sieht, wenn man sieht, wie der verbrannt wird, und zwar innerhalb von 24 Stunden, und es mag sein, dass der Mann zurückkommt und die Frau nicht mehr findet. Und was das in einem Land bedeutet, wo die Familie wirklich eine große Rolle spielt, wird einem erst in einiger Zeit klar.

Eine der Grundvoraussetzungen aller Primitivreligionen und der mystischen Religionen ist, dass wir aus zwei Personen bestehen. Und zwar eine Person des Wachens, die die Psychologie heute das Ich nennt, und eine andere Person, die wir nicht gut kennen, weil sie hinter dem Schlaf west. Aber hinter dem Schlaf ist sie genauso lebendig und arrangiert nicht nur unsere Träume, sondern ebenfalls auch Vorkommnisse in unserem Leben.

Wir sind nicht allein auf der Welt, wie E. T. so treffend sagte, es sind auch andere da. Und es sind Hilfen da, das war im Mittelalter bei uns auch selbstverständlich. Aber in der ganzen bürgerlichen Aufklärung der letzten Jahrhunderte wurde das als grobe Illusion betrachtet.

Wenn wir nun zwei Wesen sind, wie stehen beide miteinander in Beziehung? Für Chinesen, für Inder, für Afrikaner und für Indianer ist der Tod, dass wir in die Traumwelt gehen. Dass wir in der Traumwelt sind, und das Furchtbare am Tod ist, dass wir dort nichts ändern können. Nur während der kurzen Periode des Lebens ist es möglich, dass wir einen weiteren Schritt der Entwicklung im Universum — soll es der Himmel sein, soll es eine neue Erde sein, die Vorstellung wechselt — machen können. Moral bezieht sich in all diesen Kulturen auf dieses zweite Wesen, und die Verursacher der Krankheit sind überall verschieden. Aber sie gehen davon aus, dass jeder Mensch an sich die Sehnsucht hat, heilig zu werden, das heißt also, einen Zustand des Seins zu erreichen, den er hier auf der Erde nicht findet.

Die Vorstellung, dass nur dies Leben zählt, dass wir weiterleben in unseren Kindern, oder wenn die Arbeit sich fortpflanzt, ist für einen Indianer oder für einen Afrikaner einfach nicht nachvollziehbar. Wenn man jetzt lange lebt unter diesen Menschen, bekommt man ein Gefühl dafür, dass da etwas Wahres dran ist. Eine schamanische Heilung sieht von außen sehr seltsam aus. Die Krankheit ist sicher auch europäisch zu bezeichnen, aber der Schamane macht etwas gänzlich anderes. Er sucht, wohin die Seele geraubt wurde, und er findet in seinem imaginären Weltbild irgendeinen Ort, und ich habe es selbst einmal erlebt, er holt sie von dort zurück und der Betreffende ist wieder gesund. Es ist sein Believesystem, sein Glaubenssystem. Solange dies Glaubenssystem nicht in Frage gestellt ist, funktioniert es.

Wenn ein Navaho krank ist, dann wird ihm die ganze Kosmogonie vorgespielt, und zwar ist das mit vielen Riten in Verbindung, und wenn es ihm gelingt, dass er seine Krankheit in der Geschichte fixieren und wiedererkennen kann, dann ist er geheilt. Aber es gehört etwas anderes dazu. Wenn Sie bei den Indianern zu einem Medizinmann gehen und Sie sagen, Sie möchten geheilt werden, so fragt er Sie die erstaunliche Frage: Wozu, bitte? Denn, so sagen die Indianer, die Krankheit ist eine Entscheidung, die er selbst getroffen hat, der Kranke. Und er muss sich umentscheiden. Dabei kann ihm niemand helfen. Und wenn er kein wozu hat, dann wird er auch nicht gesund werden, und dann hat es auch gar keinen Sinn, sich um ihn zu kümmern.

Arnold Keyserling
Krankheit in verschiedenen Kulturen · 1992
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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