Schule des Rades
Arnold Keyserling
Krankheit in verschiedenen Kulturen
Wann ist der Mensch gesund
Das ist nun eine sehr andere Einstellung als bei uns, wo die meisten Menschen ja den Arzt als eine Autowerkstatt betrachten, wo man irgend etwas, was nicht mehr funktioniert, abgibt und dann beleidigt ist, wenn es nicht mehr funktioniert oder wenn man nicht mehr genauso seinen Körper wiederbekommt. Wir sind alle dazu da, der Menschheit zu dienen, das ist die Auffassung der Indianer. Und das kann man eben dadurch, dass man sich überlegt, warum hat der Mensch seine Gesundheit verloren? Was ist aber seine Gesundheit?
Seine Gesundheit ist für den Indianer, immer eine neue Vision zu finden. Selbstverständlich ist diese Vision etwas anderes bei IBM als bei den Komantschen. Aber letzten Endes kommt es darauf heraus, dass man von außen her, d. h. also aus dem Jenseits her, eine Antwort bekommt. Die geläufigste Bezeichnung dieser beiden Welten, des Wachens und des Traumes, ist Tonal und Nagual. Und der Tonal ist die Welt, in der wir hier sind und von der wir heute abend eine ganze Menge gehört haben. Und der Nagual ist eine ganz andere Welt, die aber nicht sehr anders ist wie diese hier und die wir im Traum die ganze Zeit besuchen.
Jetzt ist es die indianische Vorstellung, dass zur Heilung das wichtigste ist, dass man seinen Vorstellungskörper ganz hat. Der Vorstellungskörper, man nennt ihn jetzt wissenschaftlich den kinästhetischen Körper oder französisch Le schèma corporel, ist die Voraussetzung der Heilung.
In der Simonton Clinic, einer Krebsklinik in Amerika, wurden die Patienten einmal gefragt, sie sollen Bilder malen von ihrer Krankheit. Und da haben sie kleine Männchen gemalt. Und auf einmal hat man das verglichen mit dem, was der Schamane auf den Topf gemalt hat. Dieser Schamane hatte also auf einen Menschen einen Keramiktopf gestellt und darauf gezeichnet, alles mögliche, dann den Topf zerbrochen, und nachher war der Mensch gesund.
Ja, wer macht uns denn krank? Ist Krankheit eine Schuld, wie es viele glaubten? Ist Krankheit die Einwirkung böser Geister, wir werden das in Afrika hören. Es gibt viele Möglichkeiten, aber wann ist der Mensch gesund? Ich hörte einmal einen alten Indianer sagen, Grandfather Yellowtail, er ist jetzt 104 Jahre alt: It is so terribly difficult to get ill. The white people succeed magnificently. How do they do it?
Das heißt also, es gibt absolut Kulturen, wo die Gesundheit nicht etwas statisch Harmonisches ist, sondern etwas Dynamisches. Und wir wissen ja aus der modernen Chaosforschung, dass das stimmt, dass nicht das kosmische Gleichgewicht das Ideale ist, denn das führt letztlich zur Entropie. Sondern dass der Mensch so lange lebt, wie ihm etwas Neues einfällt. Konrad Lorenz hat einmal gesagt:
Der Mensch könnte 180 Jahre aufnehmen, ohne seine Gehirnkapazität zu verlieren. Aber wenn er früher aufhört, der berühmte Pensionsschock z. B., in dem Augenblick stirbt er einen geistigen Tod.
Ist diese Auffassung sehr anders als die indianische? Bei der indianischen Heilung sagt man folgendes: Was man geben kann, ist Kraft dem Patienten.