Schule des Rades

Arnold Keyserling

Krankheit in verschiedenen Kulturen

Was ist Ihre Einstellung zum Göttlichen?

Ich fange jedes Semester an in der Hochschule, dass ich alle meine Studenten frage: Was ist Ihre Einstellung zum Göttlichen? Und da sagt der eine die Kraft, die Liebe, die Ordnung oder was immer. Und dann sage ich, wo diese Religion zu Hause ist. Denn die Religionen sind so vielfältig wie die Menschen. Die Kosmogonien sind so vielfältig. Brauchen wir die Kosmogonien zur Heilung? Bei einem Kongreß in Wien habe ich darüber gesprochen, über die kosmogonische Heilung, wie jetzt manche Bewusstseinsforscher glauben, dass uns die Physik die Möglichkeit gibt, das menschliche Leben im Zusammenhang zu verstehen. Aber eines kann man sagen: Alle Menschen suchen, jeder der helfen will, wird helfen können.

Denken wir nur an die Psychoanalyse. Sie kommen zu einem Freudianer. Das ist eindeutig ein Penis. Das ist eindeutig eine Vagina. Das ist noch ein Penis. Ist das eine Vagina oder Penis, das ist nicht so leicht. Jedenfalls die Träume richten sich danach. Jetzt raufen sie sich mit dem, weil der zu teuer ist und was machen sie, sie gehen zum Adlerianer. Das ist eindeutig ein Machtsymbol, ein Zepter. Wenn Sie am Klo sitzen, eindeutig Allmachtsphantasien usw. Stimmt alles. Und jetzt gehen Sie in die Schweiz, weil Sie denken, Sie möchten doch einmal geheilt werden, zu einem Jungianer und das ist dann alles wichtiges archetypisches Material. Und so geht’s durch. Unser Selbst, dem ist es wurscht, was für ein System sie haben und so ist es möglich, dass es viele medizinische Paradigmen gibt.

Wenn Sie einmal Die Geschichte der Klinik von Michel Foucault lesen. Was es für Vorstellungen über Krankheit gegeben hat, es ist unfasslich, was alles da war. Und wie sich das ändert, und wer weiß, ob unsere Vorstellung von Krankheit und Gesundheit und Arzt usw. sich nicht auch wieder ändern wird. Ich finde das nicht so tragisch. Ich muss sagen, diese Beschäftigung mit der Tradition, ist das immer so gut? Und sind die Leute früher genauso blöd gewesen wie wir? Und kann man deshalb nicht darauf vertrauen, dass wir auch so einen Blödsinn gemacht haben. Das heißt, dass man eigentlich fragen sollte, ganz dumm, wie es Jean Houston sagt, Let us ask the great questions, als ob es niemand getan hätte. Und dann betrachten wir die Tradition.

Ich unterrichte seit 25 Jahren Geschichte und ich habe Geschichte sehr gern. Aber wenn man Geschichte unterrichtet und sieht, wie sich die Vorstellungen über den Tod und über die Krankheit verändern, dann ist es doch etwas sehr Seltsames.

Ich war vor einiger Zeit in einer Intensivstation, da gab es ein Sterbezimmer, da wurde man hineingefahren, ich bin auch einmal einen Moment drinnen gewesen, aber dann bin ich wieder herausgefahren worden. Wie Sie sehen, erfreue ich mich noch ganz guter Gesundheit jetzt, und wussten die Leute, dass sie sterben. Keine Rede davon. Kein Mensch sagt ihnen: Du wirst tot sein. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie sind tot und haben keine Ahnung, dass Sie tot sind. Was machen Sie dann? Ein Freund von mir wurde in Norddeutschland behandelt, und zwar in einer Klinik in Hamburg, plötzlich sagte er kurz vor seinem Tod: Doktor, da sind ja lauter Trolle hier im Zimmer, das war ein Norweger. Darauf sagt er: Ach, machen Sie sich doch keine Sorgen, das sind alles Halluzinationen. Sie haben gut reden, Herr Doktor, denn Sie leben. Wenn ich tot bin, bin ich der Bande ausgeliefert, was soll ich tun?

Bitte, wir wissen viel, aber wir wissen auch sehr wenig. Aber wir haben durch unsere Fähigkeit des Suchens, durch unsere Fähigkeit des Neuen die Möglichkeit, immer wieder anzufangen. Altern ist nicht notwendig. Ich habe das Glück gehabt, als Lehrer sehr, sehr alte Menschen zu haben.

Und ich weiß, wie ein alter Mann aussehen kann. Und bei uns ist es jetzt eigentlich so, mit 35 Jahren ist so der Höhepunkt, 35 bis 40, und dann wandert man ab nach Lainz und ist gut dafür, auf die Enkel aufzupassen, wenn die Eltern ins Kino gehen wollen. Wie ist es in Afrika? Ich machte ein Seminar in Marokko. Wie aus dem Nichts kommen aus der Wüste 200 Kinder, die drumherum stehen und sitzen. In Indien, da sitzt ein schweigender alter Mann, und es sind 50 Leute um ihn herum. Warum, frage ich. Wegen der Qualität ihres Schweigens. Gibt es das schweigende Behandeln auch? Einer meiner Lehrer war ein Inder namens Ramana Maharshi. Und der saß nur da, und wenn man ihm gegenüber saß, gab es keine Probleme mehr.

So hoffe ich, dass ich mit diesen kurzen Ausführungen Ihnen ein kleines Bild gegeben habe, dass die World Health Organisation eigentlich nicht unrecht hat mit der Vorstellung, dass alle traditionellen Medizinien wertvoll und zu beachten sind!

Arnold Keyserling
Krankheit in verschiedenen Kulturen · 1992
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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