Schule des Rades
Arnold Keyserling
Visionen der Wassermannzeit
Am 4. Juni 1943 um 16 Uhr saß ich in einem Kaffeehaus in Brüssel, gegenüber einem Spiegel, und las im Buch Bergson Matiere et Memoire
. Plötzlich sah ich im Spiegel anstelle meines Gesichts eine sich drehende Scheibe, ähnlich einem Praterkarussell im Winter, wenn die Figuren durch ein Tuch zugedeckt sind. Ich ging im Geist durch den Spiegel — für die Erfahrung tatsächlich im kinästhetischen Körper — trat in die Mitte, und die Scheibe kam zum Stillstand. Mein Wesen war verwandelt; ich hatte keine Angst mehr und war voll Vertrauen in die Zukunft. Ich spürte die Gewissheit, einen entscheidenden Schritt getan zu haben.
Aber was war dieser Schritt? Viele Jahre später verstand ich psychologisch und geistig seine Bedeutung. Der Schritt durch den Spiegel zeigt den Übergang von der linken wachen Hemisphäre des Großhirns zur rechten Traumhemisphäre, von der Zeiterfahrung zum Traumerleben. Zu diesem Zeitpunkt stand die Sonne genau auf meinem Aszendenten, 13°04 Zwillinge; Ich, Selbst und Wesen waren vereint.
Diese Erfahrung bedeutete meine zweite Geburt, die schamanische oder geistige im Werk. Wenn man einen afrikanischen Schamanen fragt, wie alt er ist — einer, der seine Stellung im Stamm hat, ist er gewöhnlich um die sechzig Jahre so wird er antworten: 30, 50 oder 15 Jahre, je nach dem, zu welchem Zeitpunkt seine Motivation sich mit dem höheren Selbst, dem Engel oder der Aufgabe vereint hat. Ich war gerade einundzwanzig Jahre alt.
Mein erstes Erwachen geschah mit vierzehn Jahren, beim Lesen von Paul Bruntons Buch Search in secret India
. Brunton beschrieb darin seine Erleuchtung im Ashram von Ramana Maharshi. Ich verstand die Zweiheit des Menschen, indisch Atman und Ahamkara, Selbst und Ichorgan. Dieses Ichorgan ist potentiell Teil des großen Ich Gottes, Aham, mit dem das Selbst nur im Ursprung, als Herkunft vereint ist, das Ich dagegen zu dessen Werkzeug in der Welt werden soll. Ramanas Unterweisung gipfelte in der Frage: Wer bist Du? Wer ist dein Ich? Diese Frage brachte den Schüler zur Erleuchtung.
Das existentielle Erleben dieser Zweiheit befreite mich aus dem Zwang des Schullebens; ich verlor allen Ehrgeiz, da ich wusste, dass ich an die echte transzendente Wirklichkeit geraten war. Nun, in Brüssel verlor ich die Angst vor der Gegenwart, dem Krieg und der Einordnung in die militärische Hierarchie; ich konnte auch diese Daseinsform als Spiel betrachten und mich auf die wahre Zukunft der Fügung freuen.
Jeder Mensch wird mit einer Aufgabe geboren und kann sie erkennen, wenn das Selbst der Erdmitte seine Verbindung zum All, zum höheren Selbst im Polarstern findet. Doch meine Aufgabe wurde mir erst allmählich klar: sie ist die Erkenntnis, Vorbereitung und Vermittlung der Kriterien der Wassermannzeit, der Epoche der Freundschaft und des globalen Gewahrseins, in der Ich und Selbst für alle endgültig verschmelzen werden.
Jahrzehnte später lernte ich 1958 in Indien den Zeitpunkt des Übergangs. Der Frühlingspunkt im Tierkreis verschob sich im Rhythmus des Weltenjahres am 5. Februar 1962, mit den sichtbaren Planeten um 15° Wassermann aus der Konstellation der Fische in den Wassermann, bei einer totalen Sonnenfinsternis über Neuguinea, dem Erdort des Übergangs Löwe-Krebs, wo einst das Weltenjahr begann. Die Konstellation wird in der Bhagavad Gita als Beginn der Schlacht von Kuruk Shetra interpretiert; Krishna erklärt Arjuna die Menschwerdung aus den zwölf Stufen des Tierkreises, und anschließend in den sechs Reichen des Jenseits.
Ich hatte diese Überlieferung durch den indischen Rechtsanwalt Khaitan verstanden, der sie kannte, während die indischen Astrologen meistens wie die europäischen den traditionellen Zusammenhang verloren haben.
In war der Augenblick dieser Konstellation gegen 06:30 Uhr früh im Aszendent Wassermann; daher konnten wir die Bedeutung dieses Moments rituell feiern.
Nun stellte sich heraus, das Ketu, der absteigende Mondknoten, sich am 5. Februar 1962 an der gleichen Stelle befand, minutengenau, wie bei meiner Vision; meine Aufgabe betrifft also die Wandlung der Fischezeit in die Wassermannzeit.
Es dauerte fünfzig Jahre, bis ich das Rad als Systemik des Gewahrseins endgültig klären konnte. Nun gibt mir das Brüssler Horoskop die Möglichkeit zu verstehen, wie diese Wandlung sich vollziehen wird. Betrachten wir nun den Kreis dieses Themas, das meine Frau als Grundlage ihres Lehrbuchs der philosophischen Astrologie Anlage als Weg genommen hat, in der Reihenfolge der Planeten und Häuser im Tierkreis.
Themenkreis
- Aszendent ist Waage, der entscheidende Planet ist Neptun im XII. Haus ist rückläufig. Neptun ist der Planet von Wien; so wurde der Schwerpunkt der Arbeit geographisch richtig gewählt. Das XII. Haus ist das Tor zur Vollendung; zu jenen Wesen, die die Vereinigung mit Gott erreicht haben. Neptun ist der historische Planet, der die Geschehnisse positiv als Heilsgeschichte begreifen lässt. So ist der rückläufige Ansatz im Zeichen Jungfrau das Begreifen, wie man die Vergangenheit heilbringend verstehen kann, sich nicht im Handeln auf negative vergangene Epochen bezieht, sondern sich auf jene Menschen einstimmt, die die doppelte Existenz — hüben und drüben — verwirklicht haben.
Neptun in der Jungfrau bedeutet Klarheit in sprachlichen Artikulation, rationale Klärung der Kommunikation. Er befindet sich im Tierkreis am Ende der Jungfrau kurz vor dem Herbstpunkt. Auch dies ist ein Hinweis auf die historische Bedeutung der Vision als Arbeit an der künftigen Wassermannzeit.
Die Gesellschaft des XII. Hauses ist nicht sichtbar, sondern esoterisch wie die Traumhütte der Indianer. Man betrachtet sich und andere als potentiell ganze Menschen, die das Streben zu Gott und den Einsatz für die Mitmenschen im Werk vereinen. So ist jeder, der diesen Neptun annimmt, ein Zweimalgeborener, er lebt in der Gewissheit der Teilhabe am werdenden Gott, am Menschen im All. - Das II. Haus beginnt im Skorpion. Die neue Welt entsteht durch Initiative der Arbeit — Mars im VI. Haus — also Einsatz im Aufbau der neuen Zeit. Mars ist im Widder. Diese Arbeit muss verkündet werden, sie vollzieht sich nicht über Abgeschiedenheit.
- Das III. Haus ist im Schützen, im geistigen Weg zur Vollendung. Ketu, der absteigende Mondknoten, steht im Wassermann minutengenau am Ort der Konstellation vom 5. Februar 1962. So wird das Lernen und die Gruppenarbeit auf diese Vision abgestimmt, auf die neue Weltgesellschaft, die aber das geistige Heim bildet — Ketu im IV. Haus — wo sich jeder gleich welcher Herkunft und Bildung heimisch fühlen wird.
- Das IV. Haus im Steinbock mit dem Signifikator Saturn in den Zwillingen im IX. Haus der Aufgabe, verlangt Beherrschung aller Umstände der Verwirklichung, die auf dem Zusammenfließen vieler Lebenskreise beruht — Saturn in Konjunktion mit Uranus.
- Das V. Haus im Wassermann verlangt berufliche Meisterung der technischen Zivilisation, verstanden als Kommunikationsnetz, als Noosphäre des globalen Dorfes mit Pluto im X. Haus und in seinem siebten im Löwen.
- Das VI. Haus der Arbeit beginnt in den Fischen, ist auf Ganzheit und Heilung gerichtet, die durch Reinigung der Motivationsebene — Jupiter in Krebs — die Gesellschaft in die Normalität zurückführt.
- Das VII. Haus im Widder erfordert den Einsatz jedes einzelnen in aller Öffentlichkeit, Rahu im Löwen im X. Haus — als Weg der Menschwerdung.
- Das VIII. Haus im Stier zeigt, dass der Schwerpunkt der Möglichkeit und Gelegenheiten sich auf künstlerisch-dichterisches Gebiet verlagert, auf Mitgestaltung der Erde zur Schönheit. Auch dies ist Beruf, Venus ist im X. Haus im Krebs in ihrem dritten, also auf Bildung künstlerischer Gruppen wie im Theater gerichtet.
- Das IX. Haus in den Zwillingen mit Uranus daselbst verlangt ausgehen von Lebenskreis und Astrologie als Grundlage des Verstehens von Mensch und Mitwelt.
- Das X. Haus, die Öffentlichkeit im Krebs, weist auf die Spitze der Aspektfigur, den Mond im XI. und in seinem I. Haus. Die berufliche Verantwortung richtet sich auf Klärung einer gemeinsamen historisch gewachsenen Vision, die keine negativen Aspekte kennt. Nicht Negatives darf mehr als Geschichte betrachtet werden, der Hass in allen Formen ist zu überwinden, ebenso jegliche Kollektivschuld und Karma.
- Das XI. Haus im Löwen zeigt, dass die Notablen der Gesellschaft alle Meister sind. Jeder muss seine
Medizin
in ein Handwerk verwandeln nach dem Spruch: mein Sinn muss für andere nützlich werden. - Das XII. Haus in der Jungfrau wird gesteuert aus dem stationären Merkur im VII. Haus im Stier, in seinem neunten. Stationär bedeutet das Anhalten der Kreisbewegung, wie ich es in der Vision erlebte. Die persönliche und die kollektive Geschichte wird zum Raster des Rades, einerseits in der neuen Geschichtsauffassung, andrerseits systemisch im
Atlas des Rades
der alle Inbegriffe des Gewahrseins als sokratische Anamnese artikuliert.