Schule des Rades

Arnold Keyserling

Der Traum vom Paradies

III. Traumsphäre

Der vierfältige Visionsweg

Paradies bedeutet erstens die Befreiung zur Mündigkeit, kann auch als Wiederfinden der Heimat, als Rückkehr zur Harmonie mit Pflanzen, Tiere und Steinen betrachtet werden. Es bedeutet zweitens den Zustand der Seligkeit, der Verzückung, wie er in allen Stufen der Liebe und Erleuchtung auftritt — im letzteren Falle wird die Kraft der Liebe als Aufmerksamkeit verstanden, als letztes Durchstoßen zum göttlichen Urgrund, der das Bewusstsein erhellt. So ist für die Sufis Gott als lebendige Erfahrung nur Aufmerksamkeit. Der Zusammenhang mit der Liebe leuchtet ein: die größte Eifersucht entsteht, wenn der geliebte Partner unaufmerksam ist, sich einem nicht mehr zuwendet. Aber diese Stufen der Liebe und Aufmerksamkeit sind in zwei Weisen zugänglich: einerseits im Beschreiben des nachtodlichen, mystischen Erleben, andererseits im rituellen Nachvollziehen in gemeinsamer Meditation.

Arthur Ford hat aus der okkulten Literatur und seiner persönlichen Erfahrung die Stadien nach dem Tode beschrieben, bis ein Mensch sich von der Erde löst. Demnach gäbe es vier Stufen zur Befreiung, welche auch mit der indischen Überlieferung übereinstimmen.

Ein Mensch, der ganz mit seinem Besitz, seiner Wohnung und seiner Tätigkeit identifiziert ist, haftet an diesem und mag anderen nach dem Tod als Geist erscheinen. Geister gibt es traditionell nur in Schlössern, man hat noch nie von einem Geist in einer Gemeindewohnung gehört. Diese Wesen sollen besonders Begabten sichtbar sein, und sie streben so schnell wie möglich wieder zu einer Geburt zurück. Ein Mensch, der mitten in schwerwiegenden Problemen des Denkens stirbt, sei er von praktischen Sorgen geplagt, sei er aus Plänen herausgerissen, versucht andere, die noch leben, zu beeinflussen, dass sie diese für ihn ausführen; es kann dabei zu echter Besessenheit kommen. Die brasilianischen Spiritisten in der Nachfolge von Allan Kardec glauben, dass man diesen Wesen helfen muss, sich zum Licht umzuwenden — sie haben während des Lebens nichts über den Übergang gehört und wissen gar nicht, dass sie schon gestorben sind. Ich habe selbst einige solche Fälle erlebt, wo der Betreffende zur Umkehr gebracht wurde, und die Besessenheit oder Spukphänomene dann aufhörten: die Seele erschien befriedet.

Die dritte Stufe ist jene der Wünsche: ein Mann gewährt sich, wenn er die irdischen Sorgen hinter sich ließ, deren traumhafte Erfüllung. Für die Buddhisten ist dies das falsche Paradies. Es heißt, dass jemand, der sein ganzes Leben vergeblich versucht hat, gut ein Musikinstrument zu spielen, für siebenhundert Jahre vor ausverkauften Theatern umjubelt spielt — bis ihm das zu langweilig wird, und die ebenfalls wunschhaften Schreckens- und Foltervisionen ihn zu einer neuen Inkarnation zurückbringen.

Im Tibetanischen Totenbuch wird die Folge dieser Visionen dem Toten, der der Überlieferung nach noch 49 Tage bei der Leiche weilt, genau beschrieben, in der Hoffnung, dass ihm die Vereinigung mit dem weißen Licht gelingt, oder dass er wenigstens in eine fromme Familie geboren wird, die ihm für sein Leben den Zugang zur Befreiung erleichtern wird.

Die vierte Stufe nennt Arthur Ford Eidos: der Mensch erlebt die Fähigkeit der Metamorphose, kann viele Gestalten annehmen, und hat damit die Nahtstelle zum Göttlichen erreicht. Dies wäre der eigentliche Zugang zum Paradies, aber nicht als Ort, sondern als Schwelle; die Befindlichkeit jenseits dieser Schwelle ist in unseren Worten nicht mehr ausdrückbar.

Die Anthropologin Jean Houston hat, wohl aus indianischen Überlieferungen, einen experimentellen Weg gezeigt, wie man in einem Ritus die Schwellen und die Zustände erleben kann, und damit den Weg zur Befreiung veranschaulicht, was für viele eine große Hilfe bedeutet. Sie verwendet hierzu eine Methode, in welcher gelenkte Imagination und freie Phantasie in einem bestimmten Verhältnis alternieren. Den Einstieg zu dieser Methodik bildet eine funktionelle Zuordnung von Gehirnzonen, Arten der Trauer, die einen Menschen überkommen, und Erlebensweisen im Nacheinander, welche den meisten überlieferten Initiationsfolgen entsprechen. Karl Pribram zufolge weist das Großhirn folgende Gliederung auf:

N e u r o l o g i e G e h i r n s t r u k t u r

  • Die linke Hemisphäre, analytisch, ist dem Wachen, den Sinnen und dem Zeiterlebnis zugeordnet: Vergangenheit ist nicht mehr, Zukunft ist noch nicht und der Mensch lebt in der Gegenwart.
  • Die rechte Hemisphäre hat ihren Schwerpunkt im Traum und im Raum; Träume entstehen im Einklang mit den Triebabläufen; wer lange fastet, hat Visionen von großen Freßgelagen.
  • Die hintere Sprachsphäre, die rechts und links vereint, hat als Funktion das Denken und als Inhalt Zahl und Sprache, Gedächtnis und Kommunikation; setzt Triebe und Sinnesdaten über das Wort in Beziehung.
  • Das Vorderhirn ist Sitz der Fähigkeit des Wählens und Wollens, des Entscheidens; die Aufmerksamkeit alterniert im Sekundenrhythmus zwischen Beobachtung, linear, und Erinnerung, kreisförmig.

Für den Menschen des personalen Bewusstseins sind Sinne und Worte Tore zur Welt, Traum und Schlaf oder Tod dagegen verschlossen; der Traum ergänzt das wache Erleben, um handeln zu können. Somit gibt es eine mögliche Bewusstseinswandlung, welche die rechte und vordere Zone ebenfalls in Tore verwandelt — die rechte zum Mythos als bildhafter Vergegenwärtigung der instinktiven Geborgenheit, und die vordere zu Transzendenz, Aufmerksamkeit und Gott.

Dieser Durchbruch entspricht der Bekehrung, der zweiten Geburt, dem Einstieg vom Tonal in den Nagual. Doch hierzu müssen zuerst die beiden tagbewussten Stufen integriert werden, erst dann wird die Nachtbewusstheit zugänglich. Jede der Stufen hat als Schwelle eine andere Art von Identifikation, und ferner ist bei jedem Menschen die eine oder die andere die hauptsächliche Gefahr. Wir wollen zuerst die Schwellen beschreiben und dann den Ritus.

Vom Traum her entsprechen die vier Gehirnzonen den Temperamenten der Astrologie:

die linke Hemisphäre dem melancholischen Temperament der Erdzeichen,
die hintere Zone dem sanguinischen Temperament der Luftzeichen,
die rechte Hemisphäre dem phlegmatischen Temperament der Wasserzeichen,
die vordere Zone dem cholerischen Temperament der Feuerzeichen.

  • Der Melancholiker ist traurig über die Dinge: was immer man ihm sagt, kann ihn nicht aufheitern. Wenn die Sonne scheint, dann stöhnt er über die Hitze, bei Regen weint er über die Sintflut; die Tücke des Objekts besorgt ihn. Nur der Humor kann ihn aus seiner Depression erlösen.
  • Der Sanguiniker findet auf jede Lage eine Antwort, weiß sich zu helfen; er gleicht Till Eulenspiegel, der lacht, weil es bergauf geht, weil es dann wieder bergab gehen wird. Doch wenn er einmal keinen Ausweg aus seinem Denken weiß, dann wird er verstört gleicht einem Huhn, dass durch eine Schlange hypnotisiert wurde. Der Ausweg aus dieser Identifikation liegt in der Phantasie als Anstoß, etwas Neues, einen Einfall oder ein Erlebnis, als Ansatz einer Handlung zu nehmen.
  • Der Phlegmatiker lebt zwischen Phantasie und Wirklichkeit, aber oft begnügt er sich mit Tagträumen, und wird daher verzweifelt: entweder als Selbstkritik, indem er sich verachtet, weil er zu wenig tut, oder als Selbstmitleid, in welchem er sich suhlt. Nur wenn er das Ende jeglichen Geschehens, also den Tod als Freund akzeptiert, entrinnt er seinem hysterischen Gefängnis.
  • Der Choleriker hat Zugang zur Kraft, doch kann er diese gewöhnlich nicht einsetzen, sondern sie verpufft in einem Zornausbruch wie im Amoklaufen bei den Malayen, oder in der Wut der Berserker bei den Germanen. Nur wenn er seine Wurzel im Jenseits findet und zur inneren Leere, der Aufmerksamkeit durchstößt, kann er seine Kraft integrieren. Doch hierzu bedarf er einer menschheitlichen Aufgabe; das wahre Selbst des Menschen ist nicht im sanguinischen, denkerischen Ich zu finden, sondern in jenem Zeugen, der hinter der Tiefschlafschwelle west und sich letztlich eins mit dem göttlichen Urgrund weiß.

Der Ritus, um die Bilderwelt der vier Zonen kennenzulernen, vollzieht sich in folgender Weise: zuerst eine aktive Imagination, dann 3 Minuten Uhrzeit freier Phantasie, wobei der Zeuge die entsprechenden Bilder liefert. Und als drittes das Erzählen dieser Vision, wodurch der Teilnehmer sich vor anderen zu seinen nagualischen Erlebnissen bekennt und diese poetisch integriert:

  1. Ein Krokodil ist in der Hauptstraße deiner Stadt oder deines Dorfes. Was machst Du? 3 Minuten Uhrzeit. Es gibt kaum jemanden, der nicht dabei humoristische Szenen erlebt. Die Phantasie zeigt das persönliche Verhältnis zur Wirklichkeit: Überwiegt die Angst, der Mut oder die Schlauheit?
  2. Ich stehe in einem Zimmer und betrachte mein Bild in einem Spiegel. Wie bin ich gekleidet, genau so wie jetzt, bin ich älter oder jünger? Ich gehe durch den Spiegel. Was finde ich auf der anderen Seite? 3 Minuten Uhrzeit. Das Spiegelbild, an welches wir uns erinnern, ist in seiner Vertauschung von rechts und links das falsche Ichbild; Durchschreiten des Spiegels entspricht physiologisch dem Übergang von der linken zur rechten Hemisphäre über den Corpus Callosum im Gehirn. Das, was ich auf der anderen Seite finde, zeigt mir wie ich die Ichverhaftung sprengen kann.
  3. Ich bin in einem dunklen Wald an einem Kreuzweg. Ich höre Pferdgetrappel, ein Pferd kommt näher aus der Richtung des Waldes. Es ist ein Reiter mit Purpurmantel, beim Näherkommen erkenne ich ihn als Skelett mit Krone. Er beugt sich vom Pferd und bietet mir einen goldenen Kelch. Was mache ich? 3 Minuten Uhrzeit. Fast jeder erlebt den Einstieg in den Mythos, setzt sich mit dem Gerippe aufs Pferd, trinkt vielleicht den Inhalt oder hat Angst davor, oder erlebt Szenen aus Mythen und Märchen, die ihm seine eigenen künftigen Möglichkeiten vor Augen führen.
  4. Ich stehe vor einem Hügel, eine Freitreppe führt hinauf, ich schreite hinauf; oben steht ein gläsernes Schloss. Ich gehe hinein in den gläsernen Saal, in ihm ist ein runder Glastisch, umgeben von neun leeren Stühlen. In der Mitte steht eine Kristallvase, darinnen ist ein Same oder eine Frucht. Was geschieht mit mir? 3 Minuten Uhrzeit. Fast jeder, der zu dieser Vision durchstößt, erlebt Metamorphosen — verwandelt sich in einen Baum oder einen Vogel, wird riesengroß oder winzig klein, oder das ganze Schloss explodiert und wird zu einem Garten; oder man sieht verstorbene Anverwandte, die einem etwas zeigen. Diese Vision ist von großer Freude begleitet, ähnelt einem Samadhi.

Diese vierte Vision ist die Sphäre des Eidos von Arthur Ford; sie kann auch spontan auftreten, und die schamanische Überlieferung bei den Indianern und Afrikanern behauptet, dass sie existentiell zu erreichen ist; man kann in ein Tier hineinschlüpfen, seinen Rhythmus als eigenen erleben, mit dem Körper an verschiedenen Stellen auftauchen usw.; die sogenannten Siddhis, die Wunderkräfte des Yoga beschreiben die gleichen Möglichkeiten wie die magische Überlieferung. Und dennoch ist dies nicht das Paradies, wie es die prophetischen Religionen meinen; es ist ein erweitertes Naturbewusstsein, ein Erleben der geistigen Welt des Nagual, die zu unserer dazu gehört, und die wir deswegen meistens nicht kennen, weil wir an ihre Existenz nicht glauben und uns damit den Zugang versperren.

Der Ritus eröffnet die Schau, nicht die Modalität; diese ist von einer aktiven Integration der Ebenen abhängig, von bewusster Bemühung, die durch viele Schwierigkeiten führt und nur wenigen erreichbar gewesen ist, wenn man den Überlieferungen glaubt. Um der ontologischen Paradiesvorstellung näher zu kommen, müssen wir noch einen anderen Weg erkunden: die Rückführungen, die frühere Inkarnationen auf der Erde oder anderswo in Erinnerung bringen und uns auch die Zeit zwischen zwei Leben, im Jenseits, erfahrbar machen.

Arnold Keyserling
Der Traum vom Paradies · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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