Schule des Rades

Arnold Keyserling

Metaphysische Grundlagen des Delphischen Orakels

Voraussetzung

In den letzten Jahrzehnten wurden die geistigen Kriterien verschiedener Kulturen aus der Achsenzeit — siebtes vorchristliches Jahrhundert — als Menschheitserbe geklärt und die eurozentrischen und ethnokolonialistischen Standpunkte überwunden: der indische Yoga, der chinesische I Ging, die indianische Naturfrömmigkeit, das afrikanische Verständnis der jenseitigen Mächte und der sibirische Schamanismus fanden ihren gebührenden Platz in der Weltweisheit. Das Gleiche geschah noch nicht für die europäische Kulturwurzel in Griechenland, die noch immer durch die christliche und rationalistische Brille verfälscht wird.

Ein geistiges Verständnis des Zusammenspiels der Weltkulturen verlangt die Überwindung ideologischer Vorurteile rassistischer, eurozentrischer und religiöser Art. Da die Kultur des demokratischen Zusammenlebens in Großgriechenland entstand, als deren Mitte der Nabel der Welt in Delphi galt, könnte eine Besinnung auf die vorphilosophische Metaphysik die existentielle Basis des kulturellen Lebenssinnes klären. Für die heutige angelsächsisch inspirierte wirtschaftliche Weltauffassung sind Kultur und Kunst ein Überbau, gleichsam ein Luxus. Für die präsokratischen Griechen waren sie der Schlüssel zum Lebenssinn.

Arnold Keyserling
Metaphysische Grundlagen des Delphischen Orakels · 1995
Studienkreis KRITERION
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