Schule des Rades
Arnold Keyserling
Metaphysische Grundlagen des Delphischen Orakels
Urbild der Zivilisation
Betrachten wir nun die archaische Darstellung im Licht der jüngsten anthropologischen, mathematischen und psychologischen Entdeckungen. Der homo sapiens lebt zwischen Raum und Zeit, sprachlich-physiologisch zwischen dem Selbst des Selbsterhaltungstriebes und dem Ich der Arterhaltung, der Person oder Maske, die im griechischen Theater zum Sprachrohr der Götter wird.
Der Rhythmus und die Motivation sind aus der Vergangenheit gesteuert, die orphisch für jedes Wesen bis zur Schöpfung zurückgreift. Der Melos und damit die mögliche Intention als Wahl eines zeitlichen Archetypus oder Mythos ist in der Zukunft zu schaffen. Der Mensch als seelisches Wesen zwischen Himmel und Erde, Geist und Körper, ist frei, beide zu vereinen oder zwischen ihnen zerrissen zu werden, wenn der eine Pol den anderen verdrängt. Immer bleibt die Erde und persönliche Entfaltung der Beweggrund. Doch die musische Intention tritt in die Große Gemeinsamkeit, sobald das Gottesbild aus der autoritären Verfälschung heraustritt und die Menschheit als Ganzes meint: der immanente erfahrbare Gott im Unterschied zum geglaubten ist der Mensch im All, dessen Gliedhaftigkeit der Tierkreis offenbart und an dessen Vollendung wir mitarbeiten.
Der Transzendente Gott ist buddhistisch-schamanischer Urgrund und Ursprung, der historisch manifestierte Gott wie im Christentum und Islam war als Offenbarung ein neuer Schritt der Menschwerdung. Doch der Weg des einzelnen ist nicht autoritativ fixiert, sobald einer die Kriterien der Weisheit erkennt, die von den Vorsokratikern ergründet wurden und den Weg des freien Menschen zur Auferstehung in der Kultur zeigen.
Aus der Sicht der Weltweisheit gibt es keinen Widerspruch zwischen den Religionen, jede ist ein echter Kulturausdruck. Doch die Kriterien werden erst lehrbar, nachdem die Erde in ihrem Zusammenhang mit dem Kosmos erkannt wurde. Dies ist erst heute der Fall. Daher sollte es möglich sein, aufgrund der griechischen Vorstellungen der Demokratie das Verhältnis von Selbsterhaltung zu Arterhaltung, von Mann und Frau, zwischen Politik als biologischer Umwelt, Kultur als geistiger und Gesellschaft als seelischer Umwelt zu klären und zu verwirklichen.