Schule des Rades
Arnold Keyserling
Metapolitik
Voraussetzung
Die Weisheitstradition kennt keine wissenschaftliche Entwicklung, sie ist gleichsam der sprachliche Innenbau des persönlichen und kollektiven Organismus. Ihr Ursprung ist der Beginn der Weltgeschichte vor 11.000 Jahren, in der neolithischen Revolution die Mutation vom homo faber, dem werkzeugschaffenden Tier, zum rational sprachlichen Menschen, dem homo sapiens. Als Mutation bedeutet sie die Trennung der Gehirnhemisphären, in heutiger Sprache die Unterscheidung von Raum, Zeit und Zahl, die durch die Befreiung der Hände möglich wurde.
Mathematik ist heute in der Wissenschaft das entscheidende Kriterium. Was nicht mathematisch bestimmt werden kann, bleibt bloße Meinung. Das Ausmaß des verstandenen Wissens, oder der Weisheit, Episteme, ist immer kleiner als die Erfahrung und Meinung, Doxa.
Weisheit ist das Wissen hinter dem Wissen.
Erst die moderne Religionsphilosophie hat gezeigt, das sowohl der Weg nach außen in die Natur als auch nach innen zum Geist sich Wirklichkeiten nähert. Wie Ernst Mach sagte, die Sinne trügen nie, sondern nur die Interpretationen.
Das gleiche gilt in der Religionsphilosophie für den Bereich des Traumes und des Todes. Henry Corbin hat im Anschluss an die ismaelitische Mystik diese Wirklichkeit als imaginale Welt
bezeichnet, im Unterschied zur Einbildung und Phantasie. In diese Welt kommt niemand ohne die Hilfe eines Älteren, der den Vorhang zwischen Leben und Tod zerrissen hat. Nur jener, der diese Initiation erlebt hat, war in der vorschriftlichen Welt vollgültiges Mitglied des Klans oder des Stammes, wie Malidoma Somé in der Schilderung seiner Einweihung bei den Dagaras in Westafrika treffend beschreibt. Man wird auf die Erde in die Zeit aus dem Geist geboren, um im Diesseits seinen persönlichen Entfaltungsrahmen zu bestimmen.
Die Gesundheit des lebenden Menschen wird durch die embryonale Entwicklung im Mutterleib fraktal gelenkt, wobei das Kind nach 52 Zellteilungen funktionsfähig ist. Durch Erkenntnis dieser sowohl biochemischen als auch psychischen Schritte lässt sich bei Krankheit der Zugang zur eigenen Heilkraft wieder entdecken, dem Archeus des Paracelsus, oder dem Chi der Chinesen. Voraussetzung ist, dass der erwachsene Mensch die Urkraft des zero-point field (ZPF) erfährt, chinesisch Chi geheißen — der Urraum unendlicher Energie, der aller kosmischen Ordnungen und Entfaltungen zugrunde liegt und alle Wesen in ihre Mitte bringt.
Die jüngsten Erkenntnisse der Naturwissenschaft zeigen ein wesentliches Paradigma der Rückkehr zur Ganzheit im Durchstoßen des local cultural consensus
, wie ihn die chinesischen Kriegskünste lehren. Nur wenn der Mensch seine Mitte in der Erdmitte sinnlich und imaginal spürt, kann sein Subjekt erwachen.
Durch Chi Gong, Tai Chi, Yoga und andere Disziplinen ist die Bewusstseinswandlung heute zugänglich. So kann man sagen, dass die Herrschaft der kopernikanischen Welt in der Zerstörung des mittelalterlichen Kosmos einen Aspekt der negativen gesellschaftlichen Entwicklung brachte. Der nicht objektive Sinn wurde subjektiv, aber auch wissenschaftlich gibt es nur subjektive und intersubjektive Wahrheit.
Der Kosmos beruht auf dem Chaos, wird geschaffen aus der Urkraft des ZPF durch die vier Attraktoren, die physikalische Grenzwerte darstellen. Sie werden fraktal nie erreicht, sind aber dem sinnlichen Gewahrsein inhärent. Man spürt etwa, dass einer falsch singt; wie Goethe sagte: Das Höchste wäre zu erkennen, dass alles Faktische schon Theorie ist… man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.
Entscheidend für die Subjektwerdung ist, dass nur aus der geozentrischen Perspektive die Nachtodwelt sinnlich zugänglich wird. Die meisten Träume sind REM, Wiederherstellung des mentalen Gleichgewichts. Doch durch die Entscheidung, die Wesen des Jenseits zu suchen und zu erkennen, werden diese zugänglich und antworten. Gewahrsein ist nicht das Funktionieren in der Gegenwart, sondern das Erfassen des Subjekts als punkthaften Augenblick, die nullte Dimension mit dem Göttlichen als der großen Potentialität hinter den Attraktoren. Dies ist seit der Jungsteinzeit die Welt der sakralen Mathematik, der Ziffern als Namen Gottes, wie sie die jüdisch-spanische Kabbala am Ende des Mittelalters definierte.
Der gemeinsame Nenner des jungsteinzeitlichen Wissens oder der Weisheit erscheint in vielen Visionen und esoterischen Systemen als das Rad, wie ich schon in anderen Büchern ausgeführt habe. Aber die Initiation in das Erleben der jenseitigen Welt, indianisch als Schritt vom Tonal zum Nagual und darüber hinaus zum unsterblichen geistigen Wesen ist ebenso langwierig wie die embryonale Entwicklung im Rhythmus des Mondes. Er bedeutet die Lichtwerdung und wurde bis in die letzten Einzelheiten durch die tibetanische Überlieferung im Totenbuch dargestellt, dem Bhava Chakra, das den Menschen an die Unterwelt bis zu seiner letzten irdischen Inkarnation fesselt.
Diese Tradition ist allen Klans und Stämmen der Erde gemeinsam, wir folgen nun der buddhistischen Tradition, da sie am bekanntesten ist.
Menschheitsgeschichtlich ist der Buddhismus eine junge Entwicklung, doch das Wissen des Jenseits reicht zurück bis in die Altsteinzeit, wie die Entschlüsselung der afrikanischen und der indianischen Überlieferung gezeigt hat; aber nicht in wissenschaftlicher Hinsicht, als schulische Übung, sondern existentiell bei den Pionieren des human potential movement und der transpersonalen Psychologie.
Eine entscheidende Entdeckung kam durch Giorgio de Santillana im Buch Die Mühle des Hamlet
, worin er nachwies, dass die Mythen der Astronomie folgen. Das Wissen der Sterne ist vor den Religionen und Mythen und daher lassen sich alle Traditionen der Stammeskulturen entschlüsseln.
Das Buch erschien 1969 am Höhepunkt der Ost-West-Auseinandersetzung und blieb unbemerkt, obwohl sein Autor in der auf der ganzen Erde anerkannten naturwissenschaftlich-technischen Universität Amerikas, dem M.I.T., Wissenschaftsgeschichte lehrte. Erst 1993 begann das große Publikum aufmerksam zu werden, vor allem durch die deutsche Übersetzung, die die Quellen erweiterte und von der Mitautorin Hertha von Dechend, Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Frankfurt am Main, herausgegeben wurde.