Schule des Rades
Arnold Keyserling
Kreativer Frieden
Pragmatismus
William James, Begründer der amerikanischen Philosophie des Pragmatismus, schreibt in seinem epochemachenden Buch The Varieties of Religious Experience
folgendes Postulat: You have to attain in peace the moral quality of war.
Es ist leicht, in Notzeiten oder Kriegszeiten, gemeinsam die Feigheit zu Überwinden. Doch in Friedenszeiten nehmen Trägheit und Selbstsucht überhand. An die Stelle gemeinsamer Begeisterung und Hingabe tritt die Bewahrung, eines status quo, eine konservative Grundhaltung, deren Erstarrung jegliche Initiative abtötet.
James fand in seiner psychologischen Praxis nur einen Bewusstseinszustand, der die gleiche Intensität und Überwindung der Angst zeigt wie in Lebensgefahr im Krieg: das Erleben von cosmic consciousness
, später peak experience genannt. Das Wort stammt von dem kanadischen Psychiater Maurice Bucke. Diesem begegnete in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als der mechanische Materialismus die akademische Welt beherrschte, immer wieder Menschen, die plötzliche Erfahrungen unsäglichen Glücks, mitreißender Liebe oder ein Gotteserleben hatten, meist ohne Anlass aus heiterem Himmel, doch manchmal auch aus tiefer Trauer. In früheren Zeiten wären diese Sektengründer geworden, aber der Zeitgeist war gegen sie; sie trauten sich nicht, ihre Erfahrungen zu bekennen, um nicht für verrückt gehalten zu werden.
Nun erwiesen sich aber Menschen mit solcher Erfahrung als lebenstüchtiger und liebevoller als jene, die sich auf den Alltag beschränkten. Sie wurden higher actualizers
, wie Abraham Maslow später präzisierte, und damit in höherem Einklang mit dem amerikanischen Traum als die konservativen Bekenner von law and order
.
Was sind nun diese Augenblicke gleichsam religiöser Begnadung? Sie treten auf, wenn die Welt plötzlich durchscheinend wird für das Heilige, wie Rudolf Otto zeigte. Mircea Eliade gliederte die Gipfelerfahrungen in zwei Seinsweisen: Kratophanie und Hierophanie, Krafterleben und Lichterleben. James hatte festgestellt, dass alle Religionen um diese zwei Erlebnisweisen kreisen; Hierophanie etwa die Verklärung von Christus, Elias und Moses auf dem Berg Tabor, oder die Bekehrung des Saulus auf dem Weg nach Damaskus; und Kratophanie das Gotteserlebnis des Moses im Feuer des Dornbusches, die Heilungen von Christus und die Wirkung heiliger Plätze bei Indianern, Kelten und Germanen.
Es gibt also positive Erlebnisse, die stärker wirken als die Kriegsbegeisterung, und Ursprung von religiösen Stiftungen werden. Im Krieg wie in der religiösen Begeisterung ist die normale Lebensordnung aufgehoben. Christus umgab sich mit Zöllnern, die von den orthodoxen Juden verachtet wurden, und Buddha predigte in Gärten von Hetären, weil er die indische Kastenordnung verneinte. Solche Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Krieg und der Friede Gottes stehen also im Gegensatz zur bürgerlichen Sattheit und Zufriedenheit, die die meisten Menschen mit Frieden als Abwesenheit von Krieg assoziieren. Friede ist schwerer zu erreichen und zu erhalten als Hass und Krieg. Vor allem in Revolutionen, dem Paroxysmus des Krieges, sind Menschen wie in einem Rausch, weil ihr kleines Ich in einer großen Menge aufgeht. Die Erleben gleicht dem ozeanischen Fühlen, das so leicht von Strebenden mit echter Erleuchtung verwechselt wird, nämlich dem transpersonalen Erleben wie es Graf Dürckheim und Ken Wilber bestimmen.
Das ozeanische Fühlen wird auch durch Drogen vermittelt. Es bringt keine existentielle Wandlung, sondern nur eine vorübergehende Euphorie. Die wahre religiöse Erfahrung ist kollektiv; sie ergreift die Menschen gleichsam gegen ihr Interesse. Ein Beispiel veranschaulicht die zaroastrische Offenbarung, die in Bombay jedes Jahr zum parsischen Jahresbeginn im Herbst als erster Gottesdienst durchgespielt wird.
Die Kuh, Sinnbild der vom Menschen ausgenützten Natur, tritt vor Ahura Mazda, Gott, und beklagt sich bitter, was die Menschen ihr und der Erde an Zerstörung antun. Gott antwortet auf ihr Flehen: sorge dich nicht Kuh, denn ich habe dir einen Retter erweckt. Die Kuh fragt: wer wird das sein? Darauf Ahura Mazda: Zarathustra Spitama. Die Kuh: typisch Gott, mir jemanden als Retter vorzuschlagen, der weder Macht noch Geld hat. Darauf Gott: ich habe seine Zunge mit Honig gesalbt, und wenn er spricht, wird das innere Wesen des Menschen auf ihn hören und das falsche Bewusstsein überwinden.
In dieser Lage sind wir auch heute. Die Erde und die Lebensqualität werden in unfasslicher Weise zerstört. Alle wissen was passiert, aber als Antwort gibt es nur gute Willenserklärungen oder machtlose Gebete. Ein wirksamer Anruf Gottes müsste das Gewahrsein, die ganzheitliche Erkenntnis erwecken in der Art einer peak experience. Da das Gewahrsein oder die Freude — indisch Sat-Chit-Ananda — den innersten Wesenskern bestimmen, ist dessen Erwecken durch Erkenntnis und Ritus möglich.
Die gleiche Befreiung finden wir im mystischen Islam, in einem Hadith des Propheten. Allah entschied sich, die Zukunft der Evolution dem Menschen anzuvertrauen. Die Engel sind wütend; sie waren doch immer Jasager und folgten allen Geboten treu. Sie antworteten, der Mensch, würde sicher seine Herkunft von Gott vergessen. Darauf Allah: Ich habe ihm aber eine Zauberperle eingepflanzt, deren irdisches Symbol die Kaaba in Mekka ist. Und wenn er in Not ist, erwacht in ihm der Wunsch nach Liebe und Befreiung, denn die Wurzel jedes Wunsches ist Allah; das Wort bedeutet arabisch einen Verdurstenden in der Wüste. Man braucht also nur die Motivation durch geeignete Riten zu vertiefen, und die Wahrheit offenbart sich wie der Mond in sternklarer Nacht.
Eine Friedensuniversität wäre also der Ort, in dem Menschen die Riten und das Wissen lernen, das ihnen ermöglicht, von der profanen Geschichte in die Heilsgeschichte überzuwechseln. Daher könnte die berliner Gründung, da sie am Ort der profanen Auseinandersetzung zwischen Ost und West gegründet wurde, eine Pionierrolle für den künftigen Frieden haben, wenn sie nicht in alte religiöse und soziale Formen zurückfällt. Um das zu verstehen, müssen wir die geistesgeschichtliche Lage genauer betrachten.
Die entscheidende Wandlung des abendländischen Weltbildes kam durch die Entdeckung der natürlichen Evolution. Darwins Buch erschien 1836. Doch er verstand die Evolution im Sinne des galileischen Paradigmas, gesteuert von einer Summe von Naturgesetzen wie dem Kampf ums Dasein und das Überleben der Tüchtigsten.
Dieses Überleben geht nicht auf ein Gesetz zurück, sondern auf den Einsatz, die Wahl und Entscheidung eines Subjektes. Dass dieses tüchtig ist oder war, kann nur von außen erkannt werden, wie auch, wenn im Tierreich, ein Tier zum Leittier geworden ist. Tatsächlich wird die Evolution von Subjekten vorwärtsgetrieben. Erst in den Siebziger- und Achtzigerjahren kam die Theorie in Einklang mit der Wirklichkeit, durch Entdeckung der drei Welten — Makrokosmos, Mesokosmos und Mikrokosmos — und der Autopoiese
, der Selbstorganisation als Motor der Evolution.
In der Galilei-Newtonschen Welt gab es nur Kraft und Stoff. Seit den Vierzigerjahren dieses Jahrhunderts trat als drittes Kriterium der Naturwissenschaft zu Energie und Masse die Information. Während Energie dem Mikrokosmos entstammt und Masse dem Makrokosmos, kennzeichnet die Information als Welt der Strukturen und Systeme des Lebens den Mesokosmos, der die geometrische Mitte zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos einnimmt. Energie und Masse lassen sich als Emanation aus dem Urknall verstehen. Nur im Mesokosmos gibt es Evolution. Doch geht sie lückenlos von Mineralreich zu Pflanze, Tier und Mensch, und beim Menschen von Individuen zu Gruppen, die sich als Einheit begreifen: Klans, Stämme, Städte, Völker, Reiche und Religionen.
Arthur Koestler behauptete, jedes Organ sei für sich selbst bestehend, aber gleichzeitig Teil eines höheren Zusammenhangs. Der Leberzelle sei es nicht bewusst, dass sie als Teil der Leber funktioniert. Er bezeichnete diesen Zusammenhang als Holon, gleich dem pythagoräischen Chi, offen nach oben und unten. Das Subjekt ist der nullhafte Schnittpunkt in beiden Richtungen, so bedeutet es ein Dazwischen. Nur in ihm, also aus dieser Eingliederung findet das Leben seinen Sinn. Biologisch kann man es verstehen als Wechselspiel von Selbsterhaltung und Arterhaltung mit dem Schwerpunkt auf letzterer, psychologisch als Erfahrung der zwei Subjekte im Menschen, des Selbst mit der Motivation und des Ich mit der auf den Mitmenschen gerichteten Intention.
Dieser senkrechte Rahmen ergänzt den waagrechten des Zusammenlebens. Bei den Tieren ist der obere Winkel Teilhaftigkeit an der Gattung, beim Menschen Teilhabe an Gott als dem Weltensubjekt. Er lebt nicht in einer begrenzten Merkwelt wie die Tiere, sondern auf die Umwelt des All hin; sein Subjekt ist nicht nur auf die Wirkwelt bezogen, sondern auch auf das große Subjekt im All, physikalisch die große Singularität oder Gott.
Ich kann nur Subjekt — in der Zusammenfügung von Ich und Selbst als geprägtes Sein im Wesen werden — wenn ich mich zum Wachstum in senkrechter und waagrechter Richtung bekenne; senkrecht in immer größerer Verantwortung für die Natur, waagrecht in immer größerem gemeinschaftlichen Horizont, der heute in der Wassermannzeit die Erde und die Menschheit, ja das All umfasst.
Der Begriff Wesen als Perfekt von Sein zeigt unsere Teilhabe an der Evolution. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier darin, dass er sein ganzes Leben lernen kann und muss, sonst stirbt er den geistigen Tod in der Erstarrung. Wer aufhört zu lernen, regrediert. Die Welt wird also durch Subjekte auf allen Ebenen gelenkt, vom Wirkungsquant über die körperliche und seelische Ganzheit bis zur Teilhabe am Göttlichen; der ursprüngliche Begriff der Religion bei den Griechen hieß Methexis, Partizipation an der himmlischen Sphäre.
Wenn bei Tieren die Wirkwelt nicht mehr der Merkwelt entspricht, verlieren sie die Vitalität; der Mensch dann, wenn er den Sinn seines Lebens verfehlt. Bei ihm ist die Umwelt virtuell das All unter Einschluss der Nachtwelt. Die Merkwelt des begrenzten Bewusstseins auf Beruf, Familie und Interessen genügt nicht zur Begeisterung, die allein der triebhaften Motivation überlegen ist. So weit der geistige Horizont reicht, ist das Wirkfeld des Menschen; es geht heute weit in den Makrokosmos und Mikrokosmos.
Die Erfahrungswelt ist sinnlich, nicht gesetzmäßig. Dies veranschaulicht Goethes Wort:
Das Höchste wäre zu erkennen, dass alles Faktische schon Theorie ist… man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.
Nur das Akzeptieren der Sinne eröffnet den Blick auf die Realität der Evolution; alle Erfahrung kann nur über ein äußeres oder inneres Sinnestor integriert werden. Hierbei sind die äußeren Sinne passiv aufnehmend, die fünf Wahrnehmungszweige sehen-riechen-schmecken-hören-tasten, und die fünf aktiven verdichten die imaginale Welt des Traumes, beim Sehen das Lesen und Deuten, beim Riechen das Sprechen und Schreiben. Doch die aktiven Sinne, dem Buddha noch selbstverständlich, gingen durch die Aufklärung verloren, da man begann, die Welt aus Naturgesetzen, also aus sprachlichen Formulierungen abzuleiten.