Schule des Rades
Arnold Keyserling
Gott, Zahl und Wirklichkeit
Acht
Acht ist das Prinzip der Geschichtlichkeit: nur der Mensch kann sein eigenes Leben mit dem aller anderen verstehen, welcher die geschichtlichen Keime erfasst und gleichmütig das Werden und Vergehen unter Einschluss des eigenen Todes als Episode des großen Ablaufs begreifen kann. Geschichte bedeutet menschliche Kausalität, das Gesetz von Ursache und Folge, vor allem im moralischen Bereich. Doch das achte Prinzip ist jenseits der Kausalität, schließt diese als ihren Teil ein; es bestimmt, wie die neuen Keime als Beginn neuer Kausalreihen zur Auswirkung kommen.
So hat das achte Gottesprinzip zur Entwicklung des Orakels geführt: zum Anliegen, den Willen der himmlischen Mächte und des Geschichtslaufes in den Keimen zu erkennen.
Im Christentum war dies Prinzip ganz mit dem Glauben verknüpft, oder besser mit dem Willen, alle Vorkommnisse als Geschick Gottes aufzufassen; ebenso im jüdischen Glauben. Beide Religionen lehnten die Orakelpraxis ab. Im arabisch-islamischen Bereich wurde die liegende Acht ∞ zum Symbol der Unendlichkeit: der Mensch, der imstande ist, sich in diese zu versenken, wird dadurch fähig zur wahren Haltung des Islams; er wird so offen, dass er in allem unmittelbar des Willens Gottes gewahr wird und sein Leben danach einrichtet.
Doch die wahre Bedeutung des Orakelprinzips wurde in China im Buch der Wandlungen erfasst: aus den zwei Urprinzipien des Zeugenden und des Empfangenden bilden sich acht Geschichtsfaktoren; das Schöpferische und das Empfangende, das Erregende und das Stillehalten, das Abgründige und das Haftende, und schließlich das Heitere und das Sanfte.
Aus ihrer Wechselwirkung entstehen vierundsechzig mögliche menschlich naturhafte Situationen; der Mensch, der erkennen kann, in welcher Situation er sich befindet und in welche diese sich wandeln kann, der wird sein eigenes Leben und vor allem auch das Leben seiner Gemeinschaft im Sinne der großen Natur zu lenken vermögen.
Dieser letzte Satz ist wesentlich: die Gottesprinzipien jenseits des siebten gehen nicht mehr den einzelnen an, sondern die Menschheit. Weiter als zur Überwindung des Todes kann niemand persönlich kommen. Doch wer diese erreicht hat, der hat seine menschliche Bestimmung noch nicht erfüllt; er muss zum Bodhisattva werden, zum Führer auf dem Weg der Befreiung, um seinen eigenen Weg anderen geschichtlich zugänglich zu machen.
Die sechs ersten Prinzipien bildeten die exoterischen Religionen; das siebte den Weg des Einsiedler und Einsamen; doch das achte, neunte und zehnte bildet die esoterischen Wege, die nur dem gangbar werden, der den siebenten Hüter der Schwelle überwand. Die sieben Stufen stehen vor Beginn der drei Gemeinschaftswege. Diese Teilung in exoterisch und esoterisch war früher heilsam, weil die entsprechenden Mächte noch nicht in der Menschenwelt verkörpert waren. Heute jedoch, seit der marxistischen Dialektik, sind diese Prinzipien in ihrer irdischen Auswirkung offenbar und müssen deshalb auch in ihrer religiösen Eigenart erkannt und erlebt werden, auf dass der Mensch der Öffentlichkeit nicht seinen Weg verliere.