Schule des Rades
Arnold Keyserling
Gott, Zahl und Wirklichkeit
Sechs
Das sechste Gottesprinzip bedeutet das Erleben der Subjekthaftigkeit: Mensch und Gott als die Mitte der Welt. Dieses Erleben ist nicht selbstverständlich: gerade der Mensch des Dramas, der sich im fünften Prinzip, in der Arbeit verankert fühlt, ordnet das menschliche Subjekt der Leistung unter. So bringt das sechste Prinzip das echte Erleben: Gott offenbarte sich den Juden als das ewige Du, als der ewig daseinwerdende Partner, der vom Menschen Antwort heischt; und nur durch die Antwort, durch das sich Angesprochen-Erleben, kann der Mensch auch in der Arbeitswelt — als welche die Erde von Anfang an im biblischen Mythos dargestellt war — immer wieder zu seinem Ich finden. Sein wahres Ich kann nur in bezug auf das Du geboren werden; in der echten Begegnung erfährt der Mensch seine Einsamkeit und Einzelhaftigkeit, und damit aber auch gleichzeitig die Beziehung zum anderen.
Das Band, das im Menschen Subjekt mit Subjekt verbindet, ist nun die Liebe: so ist der wahre Gott im Subjekterleben diese Liebe; hier stimmen christlicher und jüdischer Gottesbegriff überein. Doch der jüdische Begriff hat noch eine weitere Dimension: er erheischt vom Menschen, die Welt völlig gerecht zu machen; Gerechtigkeit hier verstanden als totale Verantwortung und Subjekthaftigkeit.
Die Gerechtigkeit entfaltet sich im Rahmen der sechs möglichen Urbeziehungen: vom Ich zu den Eltern, vom Ich zum gleichgeschlechtlichen und gegengeschlechtlichen Du, und schließlich zu Söhnen und Töchtern.
Nur im Sechsecksgrund kann der Mensch aus der versachlichten Welt zur wahren Liebe heimfinden, weswegen auch in Israel das Sechseck als das höchste Symbol des Königtums, als das Siegel Salomonis dargestellt wurde.
Alle menschlichen Beziehungen fallen notwendigerweise unter eine dieser sechs Richtungen; so gehört die Lehrer-Schüler- oder Vorgesetzten-Untergebener-Beziehung unter das Vater-Sohn-Verhältnis; die Beziehung zur sittlichen Welt, zu einer Lebensform unter das mütterliche Verhältnis. Die Kameradschaft gehört zur gleichgeschlechtlichen Form, die Geselligkeit zur gegengeschlechtlichen, und in der Beziehung zu Söhnen und Töchtern spiegelt sich das Verhältnis zum Schüler und zum angestrebten Werk. In dieser Form sind die Urbeziehungen als Pflichtenlehre auch in die meisten anderen Religionen aufgenommen worden, so vor allem in die konfuzianische Ethik, in die christliche Moral und die mohammedanische Loyalitätsforderung. Doch im jüdischen haben sie nicht nur den positiven, sondern auch den zerstörenden Auftrag: jedes menschliche Verhältnis, das nicht vom Subjekt aus geschieht, sondern den Menschen einer Sache unterordnet, zerstört die Gerechtigkeit und ist daher zu vernichten. Dies ist die Aufgabe der Brüderlichkeit als Gleichheit, welche dem säkularisierten Impuls des sechsten Gottesprinzips in der Französischen Revolution zur Herrschaft verhalf, im Ideal der Demokratie.
Die sechs Beziehungen sind aber unvollkommen, wenn ihnen die wahre Mitte, die Richtung auf Gott fehlt. In der Begegnung bringt der Mensch sich und den anderen gleichsam auf den Nullpunkt: er steht ihm als reine Existenz gegenüber. Doch die reine Existenz Gottes ist gleichzeitig die schöpferische Urkraft; sie ist nicht leer, sondern inhaltsträchtig. Diese wahre und tiefste Liebe erlebt der Mensch nun in zwei Richtungen: einerseits auf den Ursprung hin, auf Gott zu, andrerseits auf das Geschlecht hin, welches in vielen Sprachen als das Wort sex der Sechswurzel verwandt ist. Die Liebe zwischen Mann und Frau vereint den sachlichen Aspekt der Person — welcher ja auch Subjekt sein kann — mit dem schöpferischen Aspekt der Gottheit, die personhaft unfassbar verwandelnd in das Leben tritt. Hierin wird die Sechs in das nächste Gottesprinzip übergeführt, in die Sieben; und so ist auch im jüdischen Glauben der siebenarmige Leuchter das zentrale Symbol der Heiligung, und alle Weissagung der Propheten, die sich mit dem Einwirken Gottes befasst, trägt eine siebenstufige Ordnung, vom Schöpfungsbericht bis zur Apokalypse.
Das sechste Prinzip hat die Forderung: werde zum Ich, auf dass du in Gott das wahre Du findest. Die Aufgabe der Gemeinschaft ist erfüllt, wenn dieser Kontakt offen bleibt; ja das menschliche Recht, als sittliche Verkörperung des sechsten Impulses hat nur das Ziel, diese wahre Verantwortung zu bestimmen. Doch dass allen Menschen der Weg zum Ich offen gehalten ist, das heißt noch nicht, dass der einzelne ihn auch gehen kann. Der Mensch ist nur selten in seinem Wesen so verankert, dass er nicht im Schöpfungsstrom von der Fülle der Impulse weggeschwemmt werde. Das Ich im Wesensgrund zu festigen, ist nun die Aufgabe des siebenten Gottesprinzips, das seine Verkörperung vor allem im indischen Shivaismus gefunden hat.