Klang gewordene Menschlichkeit. Ein harmonisch, melodisch, rhythmisch zusammengefügtes Zeitgewebe. Seine Farben erhält es von den Instrumenten. Inhalt und Form fallen ineinander. Musik kann heilend wirken, zur Einsicht führen. Um Musik zu schreiben, bedarf es der Liebe. Und natürlich der Kenntnis der verschiedenen Kompositionstechniken. Sie sind die Voraussetzung, einen eigenen Ton zu finden. Wenn man begabt ist, nimmt man auf und nimmt an. Dadurch bereichert sich die Palette. Musik kann eine Explosionskraft ohnegleichen haben. Rhythmus, Melodie und Harmonie können den Menschen buchstäblich aus sich selbst herausführen.
A. K.
In der letzten Zeit wurde Theater entweder als Engagement oder als reine Unterhaltung verstanden. Bei den Griechen war Theater die Ermöglichung menschlich sinnvollen Verhaltens und auch heute greifen viele Dramatiker auf griechische Paradigmen zurück. Wie siehst du die Rolle des Theaters?
G.v.E.
Ich möchte Theater aufspalten in Sprechtheater, das Musiktheater und das Tanztheater. Die Kombination von allen dreien heißt Oper und ist die komplizierteste Kunstform unserer Zeit. Gesang, Orchester, Licht, die dialogische Bewegung der Agierenden und manchmal der wunderbar abstrahierende Tanz. Diese Form zu beherrschen, setzt Lehrjahre voraus, ideelle und praktische. Durch Heinz Tietjen, von Max Lorenz und Olga Rigele-Göring empfohlen, durfte ich mich an der Staatsoper in Berlin und bei den Bayreuther Festspielen belehren lassen, ohne den Zwang verbildeter und bitterer Lehrer. Ich besuchte nie eine Hochschule.
Wie ist Musik, die auf hörend empfindend-denkende Menschen zu geschrieben sein sollte, zu konzipieren? Alle Werke der Kunst sind Versuche, den Menschen zu begreifen, ihn sich selbst vorzustellen und dadurch über das Animalische zur Person zu erheben.
Der Tanz, die Bewegung des Körpers als wortlose Sprache, ist wohl die älteste Form der Selbst- und Gottesdarstellung. Rhythmus und Klang sind die Grammatik dieser wortlosen Sprache.
Die Oper ist eine späte Schöpfung der Menschen. Zur Unterhaltung, zu Scherz, Liebe und Trauer befähigt, birgt sie die Möglichkeit, fast alle seiner Erwartungen zu beleuchten, zu befrieden. Gibt es Schöneres, als den durch Geburt zum Tod Verdammten Linderung durch Einsicht zu vermitteln?
A. K.
Es gab große Möglichkeiten für Musik und Theater nach dem Krieg. Wie auch vieles andere, wurde diese Möglichkeiten nicht verwirklicht. Was siehst du als die wirkliche Rolle der Musik und des Theaters, also dessen, was heute nur auf der Kulturseite am Ende einer Zeitung aufscheint? Wie kann das wieder zentral werden? Welches Umdenken müsste sich bei den Kulturverantwortlichen vollziehen, damit wir wieder in eine Periode der Fülle eintreten?
G.v.E.
Die Herrschaften der Zunft sollten etwas zur Kenntnis nehmen, das ich für wesentlich halte. Die europäische Musik — angewandt aufs Theater, auf den Tanz sowie die sakrale, die absolute für den Konzertsaal — basiert auf etwas, das nur in Europa entwickelt wurde, der Polyphonie. Die Polyphonie gibt es nicht im fernen Osten, nicht bei anderen Völkern und Rassen, auch nicht bei den Indianern oder Chinesen. Diese Polyphonie, die sehr wesentlich ist im Zusammenklang, im Zusammenhalten und im Zusammenleben von Völkern, ist das, was mich befeuert und das ganze Leben hindurch bestärkt hat, von ihr nicht zu lassen. Es muss nicht unbedingt die Polyphonie der Kadenz sein. Tonika, Dominante, Subdominante etc. sind nicht die entscheidenden Elemente dieses Zusammenklingens, sondern wesentlich ist die Vielstimmigkeit, sowohl horizontal als auch vertikal. Angewendet auf unsere Geistigkeit bedeutet es, dass die Psychologie, die Wissenschaft, ja dass alles in einem musikdramatischen Kunstwerk enthalten sein kann. Es ist meine Hoffnung, und ich möchte sagen, fast schon Gewissheit, dass Autoren, die diesen Hintergrund kennen und auch seinen Schutz annehmen — dieser Hintergrund ist die Folge einer großen Entdeckung, des Kontrapunktes — eine gewisse Abgeklärtheit und Freiheit erreichen durch Regeln, die den Menschen klarer, heller durchscheinen lassen. Das Durchleuchten in beiderlei Richtungen ist das Entscheidende für meine Auffassung des Musiktheaters; und nicht nur für dieses, sondern auch für die Komposition im Abstrakten, die Form der Sonate, und auch neuzubildender Formen. Ich habe keine Vorurteile; nur glaube ich, dass die Auflösung dieser Tendenz — es ist natürlich eine Strahlkraft der Polyphonie über das Radio — sehr gestört und etwas verstört wurde durch arrogante und kurzsichtige, wenn nicht gar blinde Genossen in meiner Zunft. Es hat keinen Sinn, Namen zu nennen; der Informierte wird sowieso wissen, auf wen ich ziele. Es gibt und gab Schulen, die sich angelegen sein ließen, durch den verlorenen oder fast sogar gewonnenen Krieg, durch die Kriege den Menschen vorzumachen, dass sie in einem abstrakten Raum leben, in dem es, wie Adorno sagte, nicht mehr möglich sei, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Welche blasierte Albernheit, von einem sehr kurzsichtigen Herrn! Das Wesentliche ist die Polyphonie in ihrem ganzheitlichen Sinn. Man kann sie auch auf die Politik anwenden; sie war genauso da, als große Geister sich verständigten, zum Beispiel möchte ich Bismarck und Disraeli nennen. Wie fern waren sie der Politik Gewalt gegen Gewalt, und trotzdem waren es kluge Menschen, überragende Persönlichkeiten.
A. K.
Welche Menschen hast du gekannt oder kennst du, die für dich Leuchttürme sind? Wenn wir uns an das Jahr 1790 erinnern, so fällt uns Goethe und Kant, nicht aber der Hauptpastor Götze ein, der Gegner von Lessing, der seinerzeit viel berühmter war. Wir sollten doch in einem bestimmten Alter imstande sein zu begreifen, an wen sich spätere Jahrhunderte als die wesentlichen Pioniere dieser Epoche erinnern werden.
G.v.E.
Leuchttürme, die nicht von Öl oder elektrischem Strom, sondern vom menschlichen Geist gespeist werden, der ans Göttliche grenzt, sehe ich auf verschiedenen Gebieten. Albert Einstein, ein großer Physiker, ein großer Liebender, ein großer Mensch. Boris Blacher, Mathematiker, ausgebildeter Architekt und luzider Komponist, Musiker. Paul Klee. Sigmund Freud. Und wieder einer der Verehrer Freuds, aber kein Anbeter: Oskar Pfister, protestantischer Pfarrer in Zürich, dessen Buch Christentum und die Angst richtungsweisend für mich wurde. Nicht Hass, sondern Liebe, um mit Antigone zu sprechen, war ihm oberstes Gesetz. Und das gilt in der Kunst. Ich mag Menschen nicht, die ihre Disziplin verabsolutieren. Der Blick nach außen, auf Menschen und die Natur, Pflanzen, Tiere — nur er macht das Leben lebbar und sublimiert Kunst aus ihm.
A. K.
Die letzte Frage, die ich stellen möchte, ist die des Stirb und Werde der Inspiration und des Alltags und des unsinnigen Ideals der Gemütlichkeit. Sind Menschen nicht nur in Exzessen wirkliche Menschen?
G.v.E.
Ich möchte nicht sagen Exzesse. Exzesse müssen verinnerlicht werden, durch einen großen Verdauungsprozess zu etwas destilliert, das dem menschlichen Leben nicht Gift zufügt. Gemütlichkeit ist Schlamperei. Etwas, das von einer Denk- und Empfindungsfaulheit hervorgerufen wird, ist mir sehr fern.
Was die Kunst braucht, ist brennende Einsicht wie Kafka es nannte. Es ist eine Art von Ekstase. Der Mensch ist ein tellurisches Wesen, der Sonne verwandt. Er vermag aufzubauen und zu zerstören. Die Kunstwerke sind seine Protuberanzen.
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