Schule des Rades
Arnold Keyserling
Musik und Sinn
Metaphysik der Weltkultur
Musik ist reiner Sinn ohne Bedeutung, Vernehmen der Schöpfungsprinzipien, der Aspekte Gottes als Zahlen reiner Potentialität im Augenblick schöpferischer Indifferenz, innerer Leere in Ruhe.
Für die indische Überlieferung entstammt die Schöpfung dem Urlaut OM. In dieser reinen Schwingung ist das Gemüt mit dem Wesen, der Transzendenz des Lichts vereint, und das Dunkel ist nicht dessen Gegensatz, sondern das Wirkfeld seiner Klarheit. Im Hören, Singen und Spielen kosmischer Musik schwinden Krieg und Irrtum; man erlebt das Weben der Wirkkräfte, bevor sie sich mit Bedeutungen und Tatsachen bekleiden.
Die Wahrheit der Musik war im Altertum wohl bekannt; doch sie geriet im Laufe der Zeit fast auf der ganzen Erde in Vergessenheit. Heute erscheint sie wieder, weil Mensch und Menschheit vor einem neuen notwendigen Schritt der Menschwerdung Gottes stehen; das Pleroma der Offenbarung wird durchsichtig auf den Sinn, das Tao.
Nur in China hatte sich die spirituelle Bedeutung der Musik durch die Jahrtausende erhalten, und die Kette der Musikweisen ist im Taoismus nie abgerissen. So hieß es in den Frühlings- und Herbstanalen
des Lü Bu We aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert:
Die Ursprünge der Musik liegen weit zurück. Sie entsteht aus dem Maße und wurzelt im Großen Einen.
Das Große Eine, Tai Chi, erzeugt die zwei Pole; die zwei Pole erzeugen die Kraft des Dunkel, und des Lichten, Yin und Yang. Die Kraft des Trüben und des Lichten wandelt sich. Die eine steigt in die Höhe, und die andere sinkt in die Tiefe, sie vereinigen sich und bilden die Körper, wogend und wallend. Sind sie getrennt, so vereinigen sie sich wieder, sind sie vereint, so trennen sie sich wieder. Das ist der ewige Lauf des Himmels.
Himmel und Erde sind im Kreislauf begriffen. Auf jedes Ende folgt wieder ein Anfang, auf jedes Äußerste folgt eine Wiederkehr. Alles ist aufeinander abgestimmt. Sonne, Mond und Sterne gehen teils schnell, teils langsam. Sonne und Mond stimmen nicht überein in der Zeit, die sie zur Vollendung ihrer Bahn brauchen. Die vier Jahreszeiten treten nacheinander hervor. Sie bringen Hitze und Kälte, Kürze und Länge, Weichheit und Härte.
Das, woraus alle Wesen ihren Ursprung haben, ist die Zweiheit des Dunkel und Lichten. Sobald die Keime sich zu regen beginnen, gerinnen sie zu einer Form. Die körperliche Gestalt ist innerhalb der Welt des Raumes, und alles Räumliche hat einen Laut. Der Ton entsteht aus der Harmonie. Harmonie und Übereinstimmung sind die Wurzeln, aus denen die Musik, die die alten Könige festsetzten, entstand.
Wenn die Welt in Frieden ist, alle in ihren Wandlungen den Oberen folgen, dann lässt sich die Musik vollenden. Die vollendete Musik hat ihre Ursache; sie entsteht aus dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht entsteht aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem Sinn der Welt. Darum vermag man nur mit einem Menschen, der den Weltsinn erkannt hat, über Musik reden.
Wie erreichten die Chinesen die große Übereinstimmung? Dies schildert eine andere Stelle im Buch. Sie nahmen Bambusstäbe, verlängerten sie um ein Drittel, um das Intervall einer Quinte. Dann verkürzten sie die Flöte um ein Viertel, also um eine Quarte. So entstand aus Quintenzirkel und Quartenzirkel das zwölftönige Schema der menschlichen Vollendung, die Vision der Weltkultur als Reich der Mitte zwischen Himmel und Erde, wo der Mensch die Natur über die Kunst zur Kultur vollendet: Die zwölfstufige temperierte Skala. Der Quartenzirkel kehrt nach 60 Schritten und Tönen zum Zeugerton zurück, ist rechtsläufig wie der Tag und das Weltenjahr. Der Quintenzirkel als Schema des Lebenskreises und der Planetenumläufe nach 84 Schritten.
- So ist die Richtung des Quartenzirkels, rechtsläufig Yang, bestimmt im Sechzigjahreszyklus den Rahmen der Geschichte und der Arbeit des einzelnen am Werk der Erde,
- und die Richtung des Quintenzirkels, linksläufig Yin, bestimmt die Entfaltung und Evolution durch die Integration der Planetenkreisläufe als Weg vom Dunkel zum Licht, von TE, der Motivation zum, TAO, dem Sinn und dem Weg von Mensch und Menschheit.
So war Musik von Anfang an der Raster der philosophischen Astrologie, und diese diente der Erkenntnis von Ming, dem Mandat des Himmels, das jeder Mensch als innere Aufgabe von vor der Geburt in sich trägt, was viele Traditionen überliefern. Im Quintenzirkel der zwölf Töne ergibt sich die Folge der ersten sieben Töne die Siebentonleiter, und im Quartenzirkel entsteht in der Gegenrichtung die Fünftonleiter, veranschaulicht in den schwarzen Tasten des Klaviers. Dies ist das gemeinsame Wissensgut aller vorschriftlichen Kulturen. In der Kosmogonie der Navahos hieß es: Erster Mann schuf das Himmelszelt auf den vier Richtungen, dem Pfeiler des Ostens, des Westens, des Nordens, des Südens. Hinein setzte er Sonne und Mond. Er gab der Sonne die zwölftönige Flöte, um die Tierkreisabschnitte als Rahmen einer Kultur der Schönheit zu bestimmen, und dem Mond die fünftönige Flöte, um den Wechsel von Fülle und Leere, von Stirb und Werde zu dokumentieren.