Schule des Rades
Arnold Keyserling
Musik und Sinn
Vorsokratische Philosophie
Doch die philosophische Grammatik der Tonwelt und damit der Mathematik, der Urcode der Semiotik, wurde im siebten vorchristlichen Jahrhundert von Pythagoras geschaffen. Er ist die Voraussetzung, um die gemeinsamen Nenner aller Musiken der Erde und auch aller metaphysischen Traditionen zu bestimmen. Wir wollen nun die Komponenten unter Einschluss der seitherigen europäischen Geschichte der Musik skizzieren.
In China diente das Rad, der temperierte Quintenzirkel als Grundlage der Zivilisation. Jeder Monat hat einen anderen Ton, eine andere Fünftonleiter, und bestimmte ein anderes Kulturgebiet. Der Kaiser wechselte jeden Monat das Thema der Audienzen; so gehörte die Musik zum Monat der Ratte — für uns Widder. Und wenn es einmal keinen wirklichen Meister der Musik gab, dann blieb der Stuhl vielleicht auf sechzig Jahre unbesetzt, und man knüpfte an großen Vorbildern der Vergangenheit an.
Die chinesische Astrologie war kollektiv, sie ging vom Metonzyklus der Sarosperiode (dem Wechselspiel von Sonne und Mond) aus. Der Neumond brachte die neue Thematik, die im Vollmond ihre Fülle erreichte und dann am Ende des Zyklus zu einer neuen Aufgabe führte. Die Tierkreiszeichen betrafen Generationen, geordnet nach einem Mond-Jupiter-Zyklus, wobei jeder Mensch in seinem Jahrgang sowohl durch ein Zeichen der Zwölferreihe als auch einem Element der Zehnerreihe bestimmt wurde. 1997 ist ein Feuer-Ochsen-Jahr; hier gilt es die Bemühungen auf den praktischen Erfolg zu richten, neue Dinge zu beginnen und sein Mandat (Ming) im Zusammenklang mit anderen zu verwirklichen, also der Berufung zu dienen, die einem die Rolle im Weltganzen verdeutlicht.
Der Raster aller Weltmöglichkeiten wurde durch die Kombinatorik von zwei Ganztonleitern umschrieben, die zusammen ein Zeichenpaar der Hexagramme des I Ging bestimmen. Die 64 Lebenssituationen entsprechen den 64 Wörtern des genetischen Codes, die aus der Vereinigung der Trigramme der DNS und RNS die Lebenskeime und die persönliche Vielheit bestimmen, und Aufschluss über die eigene Berufung oder die zu treffende Entscheidung über das Orakel oder die Einsicht geben können. Die Wandlung der Linien ineinander in den Ganztonleitern wird über Quinte oder Quarte vollzogen: Veränderung und Umgestaltung.
Gleichzeitig erkannten in Babylon die Chaldäer die persönliche Astrologie; sie ergänzten die traditionellen elf Konstellationen des Tierkreises um das Zeichen Waage, schlossen das Totengericht in den Lebenskreis ein, und erhoben die Geometrie zur evidenten Zeiterkenntnis. Die musikalischen Intervalle wurden zu den Aspekten des Horoskops: kleine Terz – Quadrat zeigt einen Mangel an, große Terz – Trigon eine Begabung, Triton – Opposition einen durchzuhaltenden Gegensatz.
Auge und Ohr spielten zusammen; aber erst den vorsokratischen Philosophen gelang es, die Grundlagen von Zahl und Maß, von Geometrie und Arithmetik in Erkenntniswerkzeuge zu verwandeln.
Der erste Philosoph der Geschichte, Thales von Milet, erkannte und postulierte, dass alle Winkel im Halbkreis rechte sind. Er schuf die erste denkerische Verallgemeinerung, also ein Wissen, das nicht nur auf Erfahrung begründet ist. Die Geometrie wurde durch ihn zum Schlüssel der Erkenntnis, während sie bis dahin, wie der griechische Begriff zeigt, nur praktisch der Erdvermessung diente. Sein Schüler Anaximander nahm als Ursprung des Denkens den Gegensatz zwischen unendlich und endlich; er sah im unendlichen Chaos den Ursprung des endlichen Kosmos in der Welt und auch in den Wesen. Er wurde zum Begründer der Arithmetik, die aus der Beziehung von nichts und etwas, null und eins, Einheit und Vielheit entsteht.
Der Ansatz der Vorsokratiker war das Streben, zur subjektiven Wahrheit durchzudringen. Unsterblichkeit hieß auf griechisch Aletheia. Der gewöhnliche Sterbliche musste nach dem Tod vom Wasser des Flusses Lethe trinken, des Vergessens, und verlor mit seiner Erinnerung sein Wesen, verfiel in ein Schattendasein. Nur der Heroe, der den Tod besiegte wie Herakles in seinen zwölf Arbeiten und seinem Freitod, konnte den Weg zu den Göttern, zu den Ahnen finden, die ihr Leben im Werk, in der Kreativität verankert haben.
Wenn es nun gelänge, alles Wissen der Erinnerung in die Geometrie — Evidenz des Auges wie beim Satz des Thales, und Evidenz des arithmetischen Hörens (Anaximander) — zu verlegen, könnte zwischen Denken und Wirklichkeit die Brücke als Wahrheit gefunden werden, und das Wesen seine Unsterblichkeit erreichen.
Dies war der Ansatz des dritten milesischen Philosophen Anaximenes. Er kleidete sein Anliegen in folgende Postulate: es gelte an die Stelle des Mythos, der vorbildhaften paradigmatischen Geschichte, den Logos, die mathematisch verifizierbare Wahrheit, zu setzen, und dadurch das Chaos der Assoziationen in einen Kosmos, eine menschengemäße und schöne Ordnung zu verwandeln und drittens die unkontrollierbaren Annahmen und Meinungen, den Bereich der Doxa, in verifizierte und verstandene Einsichten — Episteme — zu verwandeln. Nur was mathematisch fassbar ist, kann Teil des Wissens hinter dem Wissen werden, das allein zu Aletheia führt, da seine Wahrheit nicht von der vergänglichen Raumzeiterfahrung abhängt, sondern im Mitwirken an der Schöpfung, der Teilhabe an der Kreativität zur Kosmisierung des Chaos führt.