Schule des Rades

Arnold Keyserling

Musik und Sinn

Obertöne · Untertöne

Aber welches der unzähligen denkbaren mathematischen Systeme entspricht der Wirklichkeit und enthebt uns der Illusion? Diese Erkenntnis war das Werk von Pythagoras aus Samos, der auf der Musik die Mathematik begründete und in Unteritalien in Kroton die erste philosophische Schule gründete. Er bestimmte die Grundbegriffe der Musik als Wissensgrundlage.

Logos kommt von legein, zählen. Zahlen sind Wirkursachen, von der planckschen Konstante h, der Zahl 1 des Universums bis zu den komplexesten Gebilden. Jeder Organismus kann als eine Summe oder Struktur von Quanten verstanden werden, die auf höherer Ebene wieder als Einheit wirken. So zeigen sie Stufen der Identität, die erst mit der Selbstähnlichkeit der fraktalen komplexen Zahlen und des deterministischen Chaos in den letzten Jahrzehnten fassbar geworden sind.

Das Schlüsselerlebnis des Pythagoras wurde im zweiten nachchristlichen Jahrhundert von Jamblichos in Alexandria geschildert. Eines Tages ging Pythagoras an einer Schmiede vorbei und hörte musikalische Intervalle. Er betrat den Raum und sah, dass Stäbe halber Länge eine Oktave ertönen ließen, ein Drittel als Quinte und ein Fünftel als große Terz. Der Sinn des Hörens offenbart also den Zusammenhang von Raum und Zeit, Maß und Schwingung, Geometrie und Arithmetik und lässt sich über die Qualitäten der Tonwerte verifizieren.

Der erste hörbare Ton, die Sinnesschwelle des Hörens, hat eine Frequenz von 16 Hertz und eine Raumlänge im Schall von 22 Metern. Stimme ich eine Klaviersaite von 120 cm Länge auf den mittleren Ton von 256 Hertz, dann erklingt als erstes die Hälfte der Saitenlänge als Oktave von c, 512 Hertz und 60 cm, dann ein Drittel der Saite mit dem Tonwert g, also 40 cm und 708 Hertz; dann folgen die weiteren Obertöne bis zum zehnten, die Oktave der großen Terz e, und im Gegensatz dazu wie bei Glocken oder Körpern die Untertöne:

Untertöne
10
as
9
b
8
c
7
b
6
f
5
as
4
c
3
f
2
c
1
c

  0   
Obertöne
1
c
2
c
3
g
4
c
5
e
6
g
7
b
8
c
9
d
10
e

Die Obertöne haben Dur-Charakter und die Untertöne, wie auch die Töne des Quartenzirkels, Moll-Charakter. Eins ist der Zeugerton, die Wellen entfalten sich bis zum Ende der Saite, und die Bewegung geht dann rückwärts bis zum Zeugerton. Hieraus entsteht eine Profilierung der Schwingungsknoten, wie etwa wenn man einen Stein in die Mitte eines runden Teiches wirft. Der Ort, wo der Stein das Wasser durchbrach, schwingt senkrecht nach oben und unten; von ihm aus verlaufen die Wellen zum Rand, werden von dort zurückgeworfen und profilieren die Wasserfläche.

Oberton 0 ist die Oktave 8 um eine große Sekund verschieden: dem großen Ganztonschritt 9/8. Doch auch 10/9 ist in Resonanz zum neunten Oberton, sodass beide Intervalle für die Resonanz als identisch vernommen werden.

Der Abstand zwischen beiden ist die Toleranz der Musik und jeglicher Resonanz. Pythagoras bezeichnete ihn als das diatonische Komma, das Verhältnis 81/80. Er bestimmt in der Astrologie, die aus der Musik entwickelt wurde, den sogenannten Orbis eines Aspektes.

Musik hat drei Komponenten, die der Neuplatoniker Proklos aufzeigte und Leonardo da Vinci als Grundlage aller Kunst betrachtete: die musica humana zeigt den Rhythmus des Körpers; die musica mundana, die Musik der Sphären und Planeten, ist die Ebene des Melos, und zwischen beiden entfaltet sich auf Grund der Intervalle der Obertöne und Untertöne die Harmonie, die musica instrumentalis, astrologisch die Aspekte des persönlichen und kollektiven Horoskops. Aus ihr kann man die Grundstruktur der Zivilisation und einer idealen Kultur bestimmen.

Quinten- und Quartenzirkel, Obertonreihe und Untertonreihe sowie die Intervalle und Aspekte bestimmen die Bedeutung eines Augenblicks; der Sinn der Musik wird erkennbar durch die Vision des Rades als Zusammenhang des Auges, des Ohres und instrumental durch den Tastsinn. Würde die Zivilisation auf die musikalische Struktur abgestimmt wie im chinesischen Ideal, lebte die Welt in Frieden. Dies bringt uns nun zum zweiten Aspekt dieses Artikels, nämlich zum New Age, astrologisch der Wassermannzeit. Sie begann am 4. Februar 1962 mit einer absoluten Sonnenfinsternis und allen lunaren Planeten auf 15° Wassermann, also mit einem Neumond über Neuguinea, dem Krebsland der Erde.

Die Kenntnis dieses größten Zeitrhythmus der Menschheit, des Weltenjahres, wurde zuletzt von Giorgio de Santillana, Professor für Geschichte und Philosophie am M.I.T., der bekanntesten naturwissenschaftlichen und technologischen Universität der USA dargestellt, und auf deutsch von Hertha von Dechend, Professor für Geschichte der Naturwissenschaften an der J. W. Goethe Universität Frankfurt a. M., übersetzt und kommentiert. Es ist 1992 auf deutsch unter dem Titel Die Mühle des Hamlet in Berlin erschienen. Die Autoren zeigen, dass die Kenntnis des Weltenjahres gemeinsames Wissensgut aller vorschriftlichen Traditionen war, und dass die Zahlen die heilige Sprache der Esoterik sind, die durch Trommeln — also Rhythmus — ermöglichen, über den Raum mit den geistigen Potenzen des Weltalls oder den Aspekten Gottes in Kontakt zu treten.

Sowohl die persönliche als auch die menschheitliche Astrologie lassen sich durch den Quinten-Quartenzirkel, später die temperierte Zwölftonskala begreifen. Im Abendland wurde die technische Voraussetzung der Temperierung durch Andreas Werckmeister geschaffen, dessen Instrument J. S. Bach zu seinem wohltemperierten Klavier anregte, zu dem er schrieb: er wolle zeigen, dass es keine Begleitung gäbe, sondern nur selbständige Melodien; dass also die Musik die Grundlage einer spirituellen Demokratie und damit der künftigen Weltordnung darstelle.

Arnold Keyserling
Musik und Sinn · 1997
Metaphysik der Weltkultur
© 1998- Schule des Rades
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