Schule des Rades

Arnold Keyserling

Bewusstsein und Evolution

Voraussetzung

Das Höchste wäre zu erkennen, dass alles Faktische schon Theorie ist… man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre. Dieses Wort von Goethe kann erst dank der Evolutionstheorie heute Gültigkeit haben. Aber wenn Goethe meint, dass das Faktische schon Theorie sei, so gilt es dieses selbst zu interpretieren, mit anderen Worten zu erkennen, dass die Natur und das Göttliche zu uns sprechen und wir imstande sein sollten, dieses Sprechen zu begreifen.

Wahrheit ist nicht Wissenschaft, wie Herbert Pietschmann so treffend ausführte; Wissenschaft zielt auf Gewissheit von Beziehungen, Wahrheit hingegen auf das Wesen hinter der Wirklichkeit. Um dieses Wesen zu erkennen, bedarf es eines anderen Bewusstseins als des dialektischen Denkens mit seiner dauernden Verifizierung und Falsifizierung. Es bedarf der Kenntnis der Urkomponenten der Welt, wie sie sich physikalisch in den Konstanten, sprachlich in den Worten, und geistig in den Symbolen ausgedrückt hat.

Die Erscheinungen verstehen wir über die Sinne. Das Gesetz der Sinne ist das Gesetz des Sinnes; aber jeder fügt diese Komponenten zu seiner Welterfahrung und seinem Lebensstil anders zusammen.

Doch haben sie ihr eigenes Gesetz: Die Tonwelt im Quintenzirkel und in der Ober- Untertonreihe, die Farbwelt im Farbkreis, die Materie im periodischen System der chemischen Elemente und den drei Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig. Weder Tonkreis noch Farbkreis oder Elementesystem finden sich in der Natur: sie sind das Werkzeug des Menschen, um sowohl die geistige Möglichkeit als auch die materielle Wirklichkeit zu begreifen und zu gestalten. Sie beruhen auf der Welt der Zahlen, welche wiederum ihren Ursprung in Null und Eins, Nichts und Etwas haben.

Mathematik, von Pythagoras geschaffen, war ursprünglich heilig. Der Mensch hat die Gefahr, sich in seinen Gedanken und Interessen zu verlieren. Seit der Aufklärung ist das Denken selbst, und mit dem Rationalismus das Wissen als Macht in den Vordergrund gerückt. Erst heute hat eine Rückbewegung zum ganzheitlichen Denken und zu einem wahren Verständnis der Esoterik eingesetzt. Diese neue Art der Mathematik kann uns verständlich machen, wie sich Bewusstsein zur natürlichen Evolution verhält.

Der Denker, der diesen Zusammenhang mathematisch zu entschlüsseln versuchte, war kein akademischer Philosoph, sondern ein technischer Ingenieur, Arthur M. Young, der Konstrukteur des Bell-Helikopters. Er erklärte, er habe den Helikopter nur konstruieren können, weil er die Intention dazu hatte. Niemand könne ihn überzeugen, Gott habe das Weltall im Sinne der Darwinistischen Evolution — trial and experiment, survival of the fittest — als Zuschauer geschaffen, sondern er hat eine Absicht damit gehabt. Diese Absicht könne man erkennen, wenn man die heutigen Gegebenheiten der Naturwissenschaft nicht im Sinne der wissenschaftlichen Methode — also wiederholbares Experiment, geprüft durch Logik und Mathematik, und heuristische Theorienbildung — interpretiert, sondern ganzheitlich. Philosophisch beruht die wissenschaftliche Methode auf einem Fehlschluss; nämlich einerseits dem Postulat einer objektiven Wahrheit, andererseits auf dem Axiom, eine Erscheinung oder ein Ereignis losgelöst zu betrachten. Dies führt zwar zu einem Denkmodell, niemals aber zur Wahrheit.

Einstein behauptete, dass Physik letztlich Geometrie sei. Die berühmte Formel E = mc² führt sowohl Elektromagnetismus als auch die Schwerkraft auf die Krümmung des Raumes zurück. Nehmen wir die mathematischen Konzepte von Raum, Zeit und Zahl als Kriterien, so können wir durch die Symmetrien in den Dimensionen das Verhältnis von Kosmogonie, Emanation, Evolution, Raum, Zeit und Bewusstsein entschlüsseln.

Arnold Keyserling
Bewusstsein und Evolution · 1998
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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