Schule des Rades

Arnold Keyserling

Bewusstsein und Evolution

Bewusstseinsschichten

Der Schweizer Forscher Sperry entdeckte nun bei der Durchtrennung des Corpus Callosum zwei vollständig voneinander getrennte Personen, die verschiedene Reaktionen zeigen. Hieraus begann die neue Großhirnforschung, die das kosmogonische Schema rechtfertigt, dass der Mensch als homo sapiens beide Hemisphären entfalten muss. Im heute geläufigen Modell ist die linke Hemisphäre zeitlich, digital, analytisch, kommunikativ auf den Mitmenschen gerichtet. Die rechte ist räumlich analog, synthetisch, auf Erinnerung gerichtet. Die linke hat ihren Schwerpunkt im Wachen, die rechte im Traum.

Doch die Zweiteilung gehört letztlich zum limbischen System, hält den Menschen im diskursiven Bewusstsein fest. Nur die indische Tradition des Advaita Vedanta hat die vier Bewusstseinsstufen gelehrt. Es hieß schon in den Vedas: von den vier Welten kennt der Durchschnittsmensch nur eine. Er muss die drei anderen ergänzen, dann erreicht er die Wahrheit, also im kosmogonischen Schema die Ebene des Göttlichen, der großen Singularität. Diese vier Bewusstseinsschichten sind Wachen, Vorstellung, Traum und Schlaf bzw. Aufmerksamkeit. Hierbei ist die Vorstellung beim Durchschnittsmenschen der einzige Schwerpunkt, und verbindet im Denken die Assoziationen selbsttätig, wodurch man von ihnen mitgerissen wird, dadurch wird sie zur Illusion, Maya. Dies gilt es durch Erreichen des Schlafes, der Ruhe, der reinen Aufmerksamkeit zu stoppen, wie der Yogasutra lehrt, erst dann ruht der Mensch in seinem Wesen.

H y p n a g o g i k

Die Unterscheidung der Bewusstseinsschichten lässt sich durch die Gehirnströme bestimmen. Das Wachen, mit Öffnen der Augen, wird ab 16 Hz Sinnesschwelle als Betawellen aktiviert. Die Vorstellungstätigkeit durch die Alphawellen zwischen 8 und 15 Hz, der Traum als Eigentätigkeit im Unterschied zum gelenkten Wachtraum zwischen 4 und 7 Hz, die Thetawellen, den Schlaf ebenso wie die Aufmerksamkeit zwischen 2 und 3 Hz, die Deltawellen; nur dieser Rhythmus lässt potentielle Erfahrung zur Erinnerung werden, wie Pöppel nachgewiesen hat.

Jeder Mensch wechselt zwischen diesen vier Bewusstheiten, wobei, wie das Encephalogramm zeigt, immer alle vier vorhanden sind, aber die elektrische Tätigkeit in einem der Bereiche die stärkste ist. Beim Wachen ist interessanterweise die begleitende Alpha-Vorstellungstätigkeit im sensorischen Cortex geringer als bei den Thetawellen des Traums.

Gehen wir jetzt wieder zu den beiden Personen zurück, die durch das Experiment von Sperry erwiesen wurden. Ihr Zusammenwirken lässt sich im Schema von Erich Neumann darstellen, welches ebenfalls die Chinesen verwenden.

Dieses Schema ist gleichzeitig das des Advaita-Vedanta. Das Selbst, das Subjekt von Traum und Schlaf, lebt seit Anbeginn der Schöpfung, das Ich nur zwischen Geburt und Tod; seine Struktur wird durch den ersten Atemzug, das astrologische Horoskop festgelegt. Während des Lebens sind Traum und Schlaf unbewusst, das Wachen und die Vorstellung dagegen bewusst. Als Ich sind wir nach außen gekehrt, wissen nichts von Traum und Schlaf. Als Selbst spinnen wir unsere Träume, können aber daran nichts tun, sind nur Zeuge. Ichorgan, Ahamkara, gilt es nun mit Selbst, Atman, dadurch zu vereinen, dass man als Partner des Ich das ewige Du, Gott als Ishvara erlebt. Damit wird aus dem Chi-Nebel des Gemüts das Wesen gleich einem Kristall geschaffen, in der buddhistischen Terminologie als achtfältiger Diamantkörper, der das Licht in sich bergen kann.
Partner des Ich und Ursprung des Selbst ist beides Brahman, Gott. Doch in dieser neuen Achtfältigkeit, der nächsten Stufe der Gehirnintegration, ist der Mensch bereits im Leben im kosmischen Bewusstsein, im Gewahrsein eingebettet. Dieses wird durch die Diagonalen verständlich.

Der Mensch ist im Wachen Ich im Leben, im träumenden Selbst im Tod; Sterben bedeutet vom Wachzustand in den Traumzustand überzuwechseln. Doch nur im wachen Leben kann die Integration des Wesens vollzogen werden, im Todzustand geht es nur, wie das Tibetanische Totenbuch lehrt, mit Hilfe eines anderen und gelingt fast nie.

Der Mensch sieht mit zwei Augen und hört mit zwei Ohren.

Das Gewahrsein oberhalb des Vorstellungsbewusstseins wird durch diese neuen Koordinaten bestimmt. Das Auge ist entweder fokusiert, dann sind die Augen mit der gegensätzlichen Hemisphäre gekoppelt. Oder die Vision ist peripher, gesteuert aus der gleichen Hemisphäre, und auf die Unendlichkeit gerichtet.

Ist der Schwerpunkt in der peripheren Vision, überwiegt das Glücksempfinden, beim Fokus der Konzentration auf einen Punkt, die Sorge. Beim Hören teilt der Schwerpunkt der Stimme den Bereich der höheren Töne im rechten Ohr von den tieferen im linken. Die Obertöne haben Dur-Charakter, sind heiter, und erklingen nacheinander. Die Untertöne haben Moll-Charakter, sind traurig und erklingen akkordhaft. Dies lässt sich sogar physikalisch-physiologisch darstellen. Nehmen wir den Zeugerton als Eins c, dann ergeben sich folgende Obertöne und Untertöne, die rechts und links bis zum zehnten reichen, nachher verschwimmen die Tonwerte und sind nicht mehr unterscheidbar.

Untertöne
Obertöne
10
as
9
b
8
c
7
b
6
f
5
as
4
c
3
f
2
c
1
c
2
c
3
g
4
c
5
e
6
g
7
b
8
c
9
d
10
e

Moll
miteinander

Zeugerton

Dur
nacheinander

Hierzu treten die drei anderen Sinne. Der Körper wird durch den Tastsinn als fester Zustand erlebt, die Seele als wäßrig durch den Geschmacksinn, und der Geist im luftigen Zustand durch den Geruchssinn. Wir erleben die Musik flächig, ebenso wie das Bild, sind aber mit unserem Herzen — dem flüssigen Kreislauf — zwischen dem Bewegungszentrum als festem Zustand im Bauch und dem luftigen Gehirn, das durch Sauerstoff funktioniert, im Kopf. Schwerpunkt des Ichs ist im Geist, im Kopf, Schwerpunkt des Wesens ist in der Seele im Herzen, und Schwerpunkt des Körpers ist im Hara, der Bewegungsmitte im Unterbauch, im Selbst.

Das Gewahrsein der Aufmerksamkeit wechselt zwischen endlich und unendlich, aufsteigend und absteigend. Es vereint die vier Schichten im Bereich von acht Komponenten, die von den Chinesen als Wechselverhältnisse von Licht und Dunkel bestimmt wurden:

Hieraus ergibt sich, dass das höchste Gewahrsein nicht abstrakt, sondern sinnlich ist. Das Wesen ist unästhetisch und kann nur achtfältig angejocht werden. Dieses Wissen ist keine Wissenschaft, sondern Weisheit; auch auf griechisch hat sophia nichts mit lernen zu tun, sondern mit Können, wurde nicht als Lehrbuch vermittelt sondern durch Initiation.

Das Gewahrsein wird, wie die humanistische Psychologie und die transpersonale Psychologie gezeigt hat, beim Durchschnittsmenschen in Augenblicken auftauchen; doch kann man es durch Beschränkung auf die mathematische Systemik der Zahlen und des Rades auch begreifen und somit langsam in seinem Dasein dazu kommen, dass man die nullte Dimension des Göttlichen schon im Leben erreicht, als, Jivanmukti, als im irdischen Dasein Befreiter, sinnlich-sinnhaft zu leben, als Brücke zwischen Himmel und Erde.

Das Rad war symbolisch bereits in vorgeschichtlicher Zeit in Tibet der Schlüssel zum Gewahrsein. Noch heute trägt jeder Tibeter es zur Orientierung am Gürtel. In der Mitte sind die zehn Zahlen, darum die acht I Gingzeichen, und außen der zwölffältige chinesische Tierkreis.

V o r d e r s e i t e R ü c k s e i t e

Ich habe seine Systemik auch in den anderen Traditionen entschlüsselt und es mittels der babylonischen, pythagoräischen und jüdischen Esoterik vollständig in über 30 Büchern dargestellt.

Damit haben wir den heute zugänglichen Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Evolution umrissen. Die Weisheitsforschung steht noch am Anfang und fast täglich gibt es sowohl wissenschaftlich als auch religionsphilosophisch neue Aspekte.

Arnold Keyserling
Bewusstsein und Evolution · 1998
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD