Schule des Rades

Arnold Keyserling

Die neuentstehende Welt

Erweiterte Bewusstseinszustände

Der entscheidende Durchbruch zum New Age geschah als Folge der Erkenntnis, dass das menschliche Bewusstsein viel reicher ist, als die akademische Psychologie und Philosophie angenommen hatte.

In Amerika brachten die Bücher von Castaneda eine Wandlung der Einstellung. Bisher hatten Ethnologen wilde Stämme aus der westlichen nationalistischen Auffassung heraus untersucht, also in der Absicht der Entmythologisierung. Der künftige Lehrer von Carlos Castaneda, der indianische Medizinmann Don Juan, drehte jedoch den Spieß um: Er lockte Castaneda in eine schamanische Ausbildung, die Welten eröffnete, die für eine ganze Generation zum Ansatz einer anderen Lebenserwartung wurde:

Niemand wusste tatsächlich Bescheid über die indianische Tradition, da sie dem europäischen Geist durch ihre selbstverständliche Einstimmung in die Natur zu fremd war. Sie schien vielen als ein offenbares Überbleibsel der durch die Aufklärung überwundenen animistischen und magischen Weltauffassung. Nun jedoch stellte es sich heraus, dass die indianische Weltsicht und der indianische Zugang zur Natur das menschliche Erleben erweitert. Die für die indianische Kultur charakteristische Verwendung von Naturdrogen dient keineswegs nur der Herbeiführung von Halluzinationen; sie dienen vielmehr dazu, dem Menschen Tore zu anderen Welten zu öffnen.

Schließlich trafen im Anschluss an die transpersonale Psychologie Gehirnforschung, Bewusstseinsforschung und Selbsterfahrung zusammen und ergaben ein ganz neues Bild des Reichtums möglichen Erlebens. So hat der 12. Imago-Mundi Kongreß (Innsbruck 1989) eine gute Übersicht der wissenschaftlichen Ergebnisse gebracht, die ich nun mit der Überlieferung und der Kosmogonie zusammenschauen möchte.

Das sogenannte Wachbewusstsein, der Alpha-Bereich, ist ein winziger Teil der legitimen menschlichen Erfahrung. Es gibt vier Weisen, seine Schranken zu durchbrechen. Nicht ohne Grund heißt das Alltagsbewusstsein in Indien Maya, Schein; und in den Vedas steht geschrieben, dass der Durchschnittsmensch von den vier Welten nur eine kenne, eben seine eigene falsche Vorstellung, die durch die Sprache und kulturelle Übereinkunft geprägt wird. Erst wenn der Mensch alle vier Welten meistert, erlangt er die Befreiung aus dem unglücklichen Bewusstsein.

Die Öffnung des menschlichen Bewusstseins kann auf viererlei Weise geschehen: Durch erregende Substanzen wie LSD oder Psilocybin, durch Drogen wie den San Pedro Kaktus, durch Reizbegrenzung, Askese und Meditation, und durch Reizüberflutung im Schamanismus, im Tanz und durch Trommeln. Alle ergeben gleiche Erfahrungen, die deshalb nicht als Illusion zu betrachten sind und sich folgendermaßen zusammenfassen lassen:

  • Steigerung der sinnlichen Erfahrung, eine aufregende Welt von Farben, Tönen, Gerüchen und Geschmacks- oder Lustempfindungen.
  • Entgrenzung des Ich, ozeanisches Fühlen, Erleben der Alleinheit, Gotteserfahrung, Lichterleben, das Empfinden unsäglicher Schönheit und Seligkeit, das Urbild der Paradiesvorstellung.
  • Intuition, blitzartiges Erkennen von Zusammenhängen, denen man in rationaler Weise durch Jahre nicht beikommt, auch wissenschaftlich-schöpferische Erkenntnisse, Inspiration in all ihren auch künstlerischen Formen.
  • Paranormale Fähigkeiten, übersteigen der normalen Sinnesgrenzen, Gedankenübertragung, Astralreisen, Erleben ferner Gegenden, plötzliches Wahrnehmen der Gedanken und Gefühle von anderen.
  • Todes- und Jenseitserfahrung, Erleben der Wiedergeburt, ob der Mensch nun daran glaubt oder nicht, nur aufgrund bestimmter Übungsfolgen.
  • Fähigkeit, den Körper als Doppelgänger zu verlassen, sich wie die Afrikaner und Indianer in ein Tier einzustimmen, zu fliegen, seinen Ichpunkt (assembly-point bei Castaneda) beliebig in und außerhalb des Körpers zu verschieben.
  • Vision der Neuen Erde oder des Paradieses, meistens im Rahmen der kulturellen Vorurteile oder der religiösen Erziehung.
  • Beschleunigung oder Verlangsamung der Zeit, Ablaufen des ganzen Lebensfilmes in einer gefährlichen Situation, Erleben des klinischen Todes als Zuschauer.
  • Plötzliche Begeisterung für eine neue Erkenntnis mit der ungeheuren Freude, dass sie wahr sei — z. B. geschildert von Arthur Koestler in seinem Buch Die Wurzeln des Zufalls.
  • Direkte Wahrnehmung der Probleme und Krankheiten eines anderen als Grundlage der Geistheilung.
  • Mantische Vertiefung, Traumreisen, aktive Imagination, Klarträume, das heißt: Bewusstsein darüber, was man träumt und in dieser Erfahrung handeln.
  • Omens and agreements, die existentielle Erkenntnis, dass Zufälle einem aus dem Jenseits als Hilfe zukommen.
  • Erspüren der persönlichen Teilnahme am Werk der Erde.

Diese geschilderten Erfahrungen, die jedem Menschen zugänglich sind und die ich selbst erlebt habe, bilden für die Rationalisten, die einen kritischen Realismus vertreten, das Feindbild der okkulten Welle. Wegen ihrer egozentrischen Einstellung bedeutet für sie ein auf die besagte Weise veränderter Bewusstseinszustand auch nichts anderes als einen Horrortrip in die Hölle, denn sie sind nicht in der Lage, den stattfindenden Ich-Verlust zu ertragen und verfallen deshalb in Verzweiflung. Für andere Menschen jedoch, für die Mitglieder der New Age Bewegung, bedeuten diese veränderten Bewusstseinszustände die Reise nach innen, die durch die rationalistische Verengung der Aufklärung nur kurz in Vergessenheit geraten war.

Jean Houston und der Psychologe Charles Tart erklären: Es gibt kein Normalbewusstsein, sondern eine nur landschaftlich und historisch verschiedene Vielzahl von veränderten Bewusstseinszuständen. Für einen Menschen, der in einem bürgerlichen Leben mit dem Ziel des Wohlstandes und einer gefestigten Stellung lebt, bedeutet es allerdings eine Gefahr, wenn er plötzlich Erfahrungen hat, die mit seiner weltanschaulichen Brille nicht übereinstimmen.

Heute kommt fast jeder über Bücher oder Selbsterfahrungs-Workshops und dergleichen an das Erlebnis solcher Bewusstseinszustände heran. Da das Chaos dieser Erfahrungen aber schon viele zugrundegerichtet hat, stellt sich die Frage, wie es möglich wäre, es in einen Kosmos zu verwandeln, der den einzelnen Menschen seine Freiheit zurückgibt.

Hierzu müssen wir an zwei neue Wissenszweige anknüpfen, die Gehirnforschung und die Schlafforschung. Diese haben in den letzten Jahren das Bild des Normalbewusstseins grundsätzlich verändert. Betrachten wir nun ihre Ergebnisse in vereinfachter Form. Es gibt fünf Bewusstseinsschichten, von denen vier durch bestimmte Frequenzen der Gehirnwellen, Alpha, Beta, Theta und Delta gekennzeichnet werden. Jede durch eine bestimmte Frequenz bestimmte Bewusstseinsart bezieht das ganze Funktionieren der Assoziations­tätigkeit von seinem Schwerpunkt aus ein.

  • Der Tiefschlaf Delta verläuft zwischen 2 und 3 Hz,
  • der Traumzustand Theta zwischen 4 und 7 Hz,
  • der banale Wachzustand Alpha zwischen 8 und 15 Hz
  • und der Wachzustand Beta, der nach Öffnen der Augen eintritt, ab 16 Hz, der Sinnesschwelle.

Der rationale Bewusstseinszustand Alpha, unterschieden vom wirklichen Wachen bei offenen Augen, der Wachzustand Beta, ist dem Durchschnittsmenschen durch den Assoziationswirbel aus Vorstellung, Gedächtnis, Erinnerung und Eindrücken verstellt.

G e h i r n z o n e n
  • Das Stammhirn mit dem Rückenmark und dem Kleinhirn ist auf die Erde und die Anlage, die Motivation bezogen.
  • Das limbische System vermeidet Schmerz, wiederholt Lust und bildet die affektive Erinnerung.
  • Im Großhirn schließlich sind die linke Hemisphäre und die Sprache, die Reflexion — die Bilder in Worte oder Worte in Bilder verwandelt — bewusst, dagegen die rechte des Traumes und die vordere des Schlafes unzugänglich. Um das Gewahrsein zu erreichen, gilt es daher, die beiden letzteren zu öffnen. Sprache und Sinneserfahrung sind kommunikativ, daher müssen es Traum und Schlaf ebenfalls sein.

Wie kommt es überhaupt zur rationalistischen Begrenzung? Das Kleinkind erlebt durch das Stammhirn und erlernt die Sprache spielerisch als Bewegungsrhythmen im Kleinhirn. Das Superlearning versucht, diese Fähigkeiten wieder zu erwecken. Kommt das Kind in die Schule, so muss es den local cultural consensus erlernen: die soziokulturelle Tradition von Klan, Stamm, Stadt, Volk oder Reich. Hierzu sperrt es sich von seiner körperlichen Triebanlage des Stammhirns ab, damit aber auch gleichzeitig von der Fähigkeit persönlicher Vision der beiden unbewussten Schichten des Großhirns. So ist das Wiederanjochen von Stammhirn und Großhirn der entscheidende Schritt des Erwachsenwerdens.

Die esoterische Bauhüttentradition betrachtete die Stufen der Menschwerdung als Lehrling, Geselle und Meister. Der Lehrling erlernt das Wissen als Wortschatz und Methodik; der Geselle wendet es mit anderen gesellig (also nicht in Rivalität) an und der Meister kann es lehren.

So können wir das New Age als biologischen Schritt, als zweite Mutation bestimmen. Es handelt sich heute darum, dass jeder Mensch über den Gesellen, über den Staatsbürger hinaus zur echten Meisterschaft des Weltbürgers gelangt, wie es auch schon Goethe beschrieb. Diese Stufe bedeutet, dass Menschen in den vollen, umfassenden Besitz ihrer wahren Fähigkeiten gelangen.

Arnold Keyserling
Die neuentstehende Welt · 1999
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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