Schule des Rades
Arnold Keyserling
Vom Kampf ums Dasein zum globalen Dorf
Die drei Gehirnzonen
So wesentlich der Rationalismus für die Befreiung des Menschen und zur Entfaltung der Demokratie gewesen ist, so schädlich hat sich die Trennung von Transzendenz und Triebwurzel ausgedrückt, so dass heute die meisten Propheten der Zivilisation an den unvermeidlichen Untergang des ganzen Lebens auf der Erde glauben, sei es durch Umweltzerstörung, sei es durch Atomkrieg.
Aber das Verdrängte lässt sich wieder einbringen; es ist in der unterbewussten Erinnerung noch zugänglich. Daher können die Mittel des Denkens in Psychologie und Bewusstseinsforschung uns einen Fingerzeig geben, wie wir die bisher mythischen Formulierungen all dessen, was dem Leben früher Sinn gab, auf kritischer Ebene begreiflich machen können. Der Einstieg hierzu ist die Gehirnforschung von K. H. Pribram und MacLean. Arthur Koestler charakterisierte die Erkenntnis dieser Pioniere über das dreifältige Gehirn und das vierfältige Bewusstsein mit den Worten: Jede Nacht gehe ich mit einer Giraffe und einem Krokodil zu Bett. Im Gehirn hat der Mensch am Reptil und am Säugetier teil, doch darüber hinaus über das Großhirn an der Fähigkeit der sprachlichen Kommunikation und Zivilisation.
Betrachten wir nun die Gehirnzonen schematisch:
- Das Stammhirn oder Reptilhirn bedeutet die Teilhabe an der Schwerkraft der Erde; die Schlange ist fähig, sich aufzurichten. Erst in den letzten Jahren ist über Yoga und Tai Chi allgemein bewusst geworden, dass Energie nicht muskulär ist, sondern verlangt, sich der Kraft der Erde zu öffnen. Dazu ist die aufrechte Achse erforderlich, wie Feldenkrais gezeigt hat. Das Stammhirn ist meistens gesund, Krankheiten kommen von den übergeordneten Systemen. Erreicht man etwa im Yoga die Stille einer Asana, so sagt einem der Körper, was sein nächster Wunsch ist.
- Das limbische System lernt über die Erfahrung des bedingten Reflexes: Wiederholung von Lust und Vermeidung von Schmerz. Seinetwegen lassen sich Tiere und Menschen abrichten. Es bildet die transaktionale Ebene des Bewusstseins, Arterhaltung und Selbsterhaltung treffen zusammen. Hierbei ist Lust für den Menschen nicht nur der Selbsterhaltung zugehörig; die höchste Lust, der geschlechtliche Orgasmus, ist auf die Art bezogen.
- Das Großhirn ist vierfältig. Die linke Hemisphäre ist zeitgebunden, bestimmt das Wachen und die Erfahrung des Nacheinanders. Es besteht in der Gegenwart, die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft noch nicht. Die räumliche Wirklichkeit ist zu gestalten.
Die rechte Hemisphäre ist die Welt des Traumes und des Raumes; der Mensch nimmt analog über den Raum die Möglichkeiten wahr. Als REM-Traum ist er ergänzend — man träumt, während einer Fastenkur von großartigen Speisekarten — als Tiefentraum prognostisch; er bezieht sich auf eine Intention der Arterhaltung, eine künftige Handlung in der Gemeinschaft.
Hinter dem Großhirn ist die Welt der Sprache, welche den Traum mit den Assoziationen der Triebe und das Wachen mit der Wahrnehmung der Sinnesdaten vereint. Entweder sieht man Bilder beim Lesen eines Buches, oder Bilder und Intuitionen der Traumwelt werden vom Dichter in, Worte verwandelt.
In der linken Großhirnhemisphäre befinden sich zwei Sprachzentren, das konzeptuelle Wernikezentrum und das kommunikative Brocazentrum. Der amerikanische Psychiater Julian Jaynes in Princeton fragte sich einmal: Was geschieht, wenn man in der rechten raumbezogenen Großhirnhemisphäre jene Punkte aktiviert, die den Sprachzentren der linken entsprechen?
Er aktivierte bei den Patienten diese Punkte, und zu seinem Erstaunen schrieben alle prophetische Texte. So kam er zu der launigen Feststellung: Das Subjekt der linken Hemisphäre heißt ich, das der rechten aber Gott.
Die Tatsache, dass uns die Stimme der Gattung genauso zugänglich ist wie die der persönlichen Individualität, ist seit zweitausend Jahren in Vergessenheit geraten. Jaynes verdeutlicht es an folgendem Beispiel: Wenn der Kapitän einer amerikanischen Fußballmannschaft vor dem Spiel Gott um den Sieg bittet, nennt man das Gebet. Wenn es hingegen Gott einfiele zu antworten, dann heißt man es Schizophrenie.
Die Aufmerksamkeit entstammt, wie Eccles nachgewiesen hat, dem Stammhirn und ist beim Menschen in Selbstzuwendung und Sachzuwendung getrennt. Im Vorderhirn entwickelt sich daraus der Rhythmus der Schwingung der Aufmerksamkeit: Eine Sekunde ist der Beobachtung, eine der Erinnerung zugewandt. Das Gewahrsein, das aus dem Schlaf, der inneren Leere: der Aufmerksamkeit ansetzt, ist also nicht eine photographische Linse, wie es die kantische Philosophie, vom erkennenden Subjekt glaubte, sondern eine dauernde Schwingung 0-1: ja zur Erinnerung, nein zur Beobachtung und umgekehrt. Daher ist das menschliche Bewusstsein durch einen binären Computer nachzuahmen. Es kann aber nur dann funktionieren, wenn es seine Entscheidung aus dem Wesen, das heißt aus dem Stammhirn des Körpers, der Aufmerksamkeit, trifft. Laut neuesten Forschungen — zitiert von Marilyn Ferguson im Brain-Mind-Bulletin — ist das Gehirn ständig durch Bereitschaftswellen von drei Hertz bewegt, die entweder eine Motivation oder eine Intention im Sinne der beiden Instinkte nahelegen. Doch erst, wenn das Gewahrsein zu einem Bild ja sagt, dann wandelt sich die Schwingung in sieben Hertz, und das Bild wird zur Entscheidung. Matthias Alexander bezeichnete daher als Voraussetzung des Gewahrseins die Inhibition: Ich muss zu einem Motiv oder zu einer Intuition erst nein sagen und dann ja, sonst werde ich von meinen Assoziationen manipuliert und mitgerissen; es müssen also im Bewusstsein beide, das Ja und das Nein, vorhanden sein — eines davon wird dann zum Ansatz für den nächsten Schritt.
Matthias Alexander war der erste, der die positive Rolle der Vorstellung für die Gesundung des Körpers untersucht hat und in seiner Alexandertechnik
einen Weg zur Normalisierung zeigte. Inzwischen ist die Zahl der Techniken gewachsen, und alle haben ein ähnliches Ziel: das Stammhirn als Zugang zur Aufmerksamkeit, zur Kraft und zur Motivation aus seiner Versklavung an das limbische System zu lösen.
Wie kommt es nun zu dieser Versklavung? Das Kind lebt am Anfang in der Phantasie und im Stammhirn, das im Kleinhirn alle Bewegungsabläufe speichert. Es lernt spielerisch, tanzt etwa die erste grammatikalische Entdeckung des Singulars und des Plurals: Papa — Papas. Kommt es aber mit sechs Jahren in die Schule, so tritt an die Stelle des freien Spielens die Forderung der Erzieher, den local cultural consensus
über Belohnung und Bestrafung zu erlernen. Hiermit wird der spielerische Zusammenhang mit den eigenen Trieben verschlossen; der Jugendliche befriedigt nur jene Wünsche, die im freudschen Sinn durch das Über-Ich der Zivilisation gestattet werden.
Während der ganzen Ausbildungszeit bleibt der Zugang zu den Instinkten verschlossen. Versuche, die kindliche Spontaneität durch die Adoleszenz aufrechtzuerhalten wie in den antiautoritären Erziehungsversuchen von Summerhill und Maria Montessori, ergaben keinen Erfolg; die meisten Absolventen suchten die Anpassung später.
Wird die Triebhaftigkeit verdrängt, dann geschieht das gleiche mit der Intuition. Man glaubt nur noch an das, was die Gesellschaft rechtfertigt. Der Geist wird zur Welt Drei im Sinne Poppers, als verbalisierte Kultur, und die Möglichkeit der rechten Großhirnhemisphäre, intuitiv neue Möglichkeiten zu finden, verkümmert.
Im Sinne der früheren Beschreibung des Vorderhirns ist die Richtung der Aufmerksamkeit des Kindes als dauernder Wechsel Erinnerung-Beobachtung organisch richtig. In der Schule, wo die Aufmerksamkeit zwangsweise auf gegebene äußere Themen gerichtet ist, schwindet die Fähigkeit des Wechsels zwischen Beobachtung und Erinnerung. Im späteren Leben des mechanisierten Menschen tritt an dessen Stelle die ewige Wiederholung des Hades, Erinnerung, Erinnerung, Erinnerung: Der Mensch hat sich in einen Computer verwandelt, der von außen her lenkbar ist.