Schule des Rades
Arnold Keyserling
Vom Kampf ums Dasein zum globalen Dorf
Macht und Geld
Die Aggression aller Vertreter von Geld und Macht, zu denen auch das akademische Establishment gehört, richtet sich gegen die Vorstellung, dass das persönliche Leben von kosmischen Rhythmen im Sinne der Astrologie geprägt sein könnte. Doch nur jene Kulturen, die wie die chinesische die Qualität der Zeit in die Regierung einbezogen haben, sind dauerhaft gewesen. Die menschliche Zivilisation entspricht der tierischen Merkwelt. Sie ist eine Projektion der Menschennatur auf die Umwelt, und nur in dem Maße, wie sie diesen organischen Ursprung nicht verliert, kann sie auch imstande sein, den menschlichen Rhythmen wie Jugend, Erwachsensein und Alter Rechnung zu tragen. Zwischen diesen drei Generationen besteht notwendig immer ein dialektisches Verhältnis, das der Hauptmotor jedes Fortschritts ist.
Das falsche Unendlichkeitsstreben von Geld und Macht ist unmenschlich; es verwandelt den Menschen in eine Maschine, einen Computer.
Geist, Seele und Körper, globales, chaotisches und periodisches Verhalten sind nicht nur simulierbar, sondern tatsächlich Lebensmittel und nicht — Lebensziel. Das Lebensziel ist der Mensch selbst in seinem Gewahrsein, dessen Bewusstsein und Wollen nur durch die Bifurkation und die Katastrophentheorie denkerisch zu begreifen ist.
Humberto R. Maturana hat nachgewiesen, dass die stärksten Emotionen des Menschen Liebe, und Hass sind. Liebe schließt die geschlechtliche Vereinigung als Ausdruck des Arterhaltungsinstinktes ein, aber sie geht darüber hinaus: Sie setzt immer vom Augenblick an und will dem anderen wohl. Hass dagegen ist falsche Vereinzelung, und Geld oder Macht als Ziel führt immer wieder in Hass; es kann gar nicht anders, da die Bedürfnisse nicht unendlich sind und ihre Verabsolutierung den Menschen in das Chaos des berechnenden tierischen Denkens herunterreißen.
Religion bedeutet, den Menschen zu erwecken, dass er die Liebe und nicht den Hass zur Triebfeder seines Lebens erhebt. Trachtet nach dem Reich Gottes, und der Rest wird euch zuteil.
Dieses christliche Wort hat auch für das Wirtschaftsleben seine Gültigkeit. Ein unethischer Geschäftsmann, dem der Profit über alles geht, wird auch letzteren verlieren, weil bald niemand ihm mehr vertraut, wie Koestenbaum so anschaulich beschreibt.
Der Mensch ist ein Wesen, für welches gut und böse absolute Kategorien sind. Gut ist, was der Potentialität des anderen hilft, so wie der Verliebte nur das Beste für seinen Partner will. Der sogenannte Realismus, dass nur Geld und Macht zählen, ist böses Denken. Immer wieder, durch sein ganzes Leben steht der Mensch vor der Entscheidung, dass er Liebe und nicht Hass will. Kampf als Ziel des Lebens ist falsche Romantik; handeln aus vergangener Demütigung ist zwar begreiflich, aber böse. Das indische Ahimsa, nicht Unrecht tun, das chinesische Wu Wei, wirken, ohne zu streiten, leuchten jedem ein.
Wir befinden uns im Wandel von der pluralistischen Gesellschaft mit vielen Machtzentren, letztlich bestimmt durch die zwei Supermächte als Inkarnationen von Geld und Macht, zum globalen Dorf. Und so müssen wir als letztes die Verwirklichung dieser entstehenden Weltgesellschaft jenseits, der Pseudoideologien des Westens und des Ostens berücksichtigen.,
Kehren wir wieder zu den Kategorien von Norbert Elias zurück. Die Zivilisation, gekennzeichnet durch Anheben der Schamgrenze — dessen, was man nicht tun darf — hat in der Arterhaltung immer jenen Horizont gehabt, der den Menschen erfahrbar war. Zuerst gab es die Religion der Klans, der abgeschlossenen Familienverbände, wie sie heute noch in Australien bestehen. In der folgenden Epoche vereinten sich die Klans zu nomadischen Stämmen, deren Wanderungen der Vision folgten. Stämme schlossen sich zusammen zu Städten, die eine Funktionalisierung des Berufs brachten. Die Sprachgemeinschaft der Städte erweiterte sich zu Gottesvölkern wie der Juden, der Inder und der Chinesen, die durch ein verpflichtendes Gesetz vereint waren. Die Völker schließlich in der letzten Epoche vereinten sich zu Reichen wie den römischen, dem russischen oder dem englischen Empire.
Heute sind diese Reiche den wirtschaftlichen Interessen gewichen; das revolutionäre Pathos nationaler Ideologien wirkt lächerlich. Damit stellt sich aber die Frage, wie die entstehende Weltgesellschaft die falsche Dynamik von Geld und Macht, die durch die Computer überwunden wird, in die echte Kommunion der Liebe überführt, wo das kantische Ideal verwirklicht sein könnte, dass der Mitmensch nicht nur das Mittel, sondern auch das Ziel des Handelns werde.
Im globalen Dorf hat jeder Mensch seinen Klan in einer Gruppe von etwa 40 Leuten, seinen Stamm in seinem Bekanntenkreis von etwa achthundert; so viele Adressen haben die meisten im Telephonbuch. Seine Stadt ist die statisch anerkannte Rolle in der Gesellschaft, etwa Rechtsanwalt oder Arzt, Installateur oder Eisenbahner. Seine Volkszugehörigkeit hat er nicht national, sondern kulturell in der für ihn verpflichtenden Sprach- und Geschichtsgemeinschaft, seine Reichszugehörigkeit in der Anerkennung weltbedeutsamer Menschen wie Einstein, Picasso oder Gandhi. Doch im globalen Dorf gehört seine Loyalität der Erde, für deren Fortbestand er heute die Verantwortung trägt.
Für Jeden ist es eine persönliche Entscheidung, sich zur Liebe anstatt zum Hass zu bekennen. Vergangene Religionen hatten ihren Schwerpunkt im Traum, im globalen Denken und damit in einer Ideologie. Hier war die marxistische Kritik berechtigt, dass religiöse Ideale und Festlegungen von Gut und Böse der Hauptanlass für Versklavung und Vernichtung von Menschen gewesen sind. Im globalen Dorf, das die Netzwerke der Kommunikation so beherrscht, dass die notwendigen Informationen jedem zur Verfügung stehen, der sie benötigt, wird die Bifurkation entscheidend. Es könnte heute jene Ökumene entstehen, die Papst Johannes im zweiten vatikanischen Konzil als Zukunftsmöglichkeit erschaute. Vielen Menschen ist nun diese Tatsache bewusst, und sie bemühen sich, gleich den Wissenschaftlern in den geistigen Bereich vorzustoßen, um neue Wege zu schaffen. Manche glauben einen solchen gefunden zu haben und halten sich daher für Führer und Heiler, wie die Gurus der Jugendreligionen. Aber tatsächlich ist das Wissen, das uns ermöglicht, auf höherer Ebene zur Lebensganzheit zurückzukehren, nicht etwas neu zu Schaffendes: Es ist das Wissen der Offenbarung, welches seit jeher und zu allen Zeiten denen zugänglich gewesen ist, die sich darum bemühten, und das immer nur neu in zeitgemäßer Weise formuliert werden muss. Krishna sagt im vierten Kapitel der Bhagavad Gita:
Dieses Wissen habe ich einst dem Vishavat gegeben, von diesem ging es zu Manu, bis es sich in der Folge der Generationen verlor. Doch jedesmal, wenn es verloren ist, komme ich in neuer Form auf die Erde mit einer neuen Botschaft, und über diese letzte Form braucht niemand zurückzugehen.