Schule des Rades

Arnold Keyserling

Forum der Maieutik

in Wirtschaft, Politik und Kunst

Maieutik hieß die Hebammenkunst des Sokrates. Sie hatte als Ziel, die geistige zweite Geburt des Wesens vorzubereiten, brachte also die mythische und rituelle Initiation der Stammeskulturen auf die logische Ebene des Verstehens. Nur wer dieses Verstehen, den Schritt vom Mythos zum Logos vollzogen hat, der kann für andere Vorbild und Sinnbild ihres eigenen Strebens werden.

Das menschliche Wesen ist kein Erzeugnis der natürlichen Evolution, es entfaltet sich in den Schmerzen der zweiten Geburt. Die Anstrengung führt von Scheitern zu Scheitern, bis einmal die persönlichen Bemühungen und die Fügungen sich zum persönlichen Sinn vereinen. Das Wesen kann also nicht durch Lernen im universitären Sinn erweckt werden, sondern nur im Weg der Weisheit, durch nie nachlassenden Mut.

Maieutik ist nicht Führerschaft: das Ziel ist, den anderen zu seinem eigenen Wesen und Weg zu erwecken, aus seiner Anlage heraus, und diese zu bestätigen. Anderen zum Selbst verhelfen kann nur jener, der sein eigenes in einem Durchbruch, der Erleuchtung gefunden hat und seine triebhafte Motivation als Brennstoff des Lebens im Sinne der Tiefenpsychologie bejaht.

Menschwerdung ist nicht durch Diplome zu fördern; sie findet ihren Niederschlag in drei Kulturgebieten, welche die irdische Existenz prägen: in Wirtschaft, Politik und Kunst.

  • Wirtschaft bedeutet, Mittel für die Befriedigung echter Bedürfnisse und geistiger Entfaltungsziele bereitzustellen.
  • Echte Politik will Befreiung des einzelnen und der Gemeinschaften zur Selbstbestimmung und zum freien, toleranten Gespräch.
  • Kunst ist die Verwandlung der Umwelt in menschliche Zivilisation.

Diese drei bilden den Außenbau, in welchem andere Kulturgebiete wie Wissenschaft, Pädagogik, Medizin und Ökologie sich entfalten können. Nur bei ihnen ist Ausdruck und Inhalt zur Deckung zu bringen. Daher besteht auch die Gefahr, dass sich der Mensch mit ihnen identifiziert, in den Materialismus versinkt und seines Wesens verlustig geht. Ein sinnvolles, kreatives Leben kann nicht geplant werden, sondern entsteht im Stirb und Werde, von Augenblick zu Augenblick. Der Sinn kann nicht ideologisch vorgegeben werden. Nur jene, die ihren Durchbruch zur Mitmenschlichkeit vollzogen haben, können durch Stehen zum eigenen persönlichen Weg als Anreger für andere dienen, die nach ihrer eigenen Bestimmung suchen: So wäre Genialität nicht das Ergebnis einer besonderen Begabung, sondern eine frei gewählte Berufung, eine Medizin im indianischen Sinn, die jedem bei geeigneter Vorbereitung zugänglich würde; die Wiederkehr der subjektiven Wahrheit.

Durch diesen Weg wird der Mensch der technologischen Zivilisation gewachsen sein, die unser globales Schicksal ist. Nun ist Österreich sowohl als Erbe des alten Reiches als Schwerpunkt der polyphonen Zivilisation und auch als Hort unbeirrbarer Individualitäten vielleicht besser als andere Staaten geeignet, jene Pioniere als Leuchttürme erscheinen zu lassen, die bereits heute von der globalen Zivilisation, der Menschheitsökumene ausgehen und anderen dabei ein Licht aufstecken können.

Der wichtigste Schritt wäre die Überwindung des Provinzialismus in seiner Engstirnigkeit, Rechthaberei, ganz zu schweigen von Rassismus, Faschismus und Nationalismus, die uns von allen Seiten bedrohen. Daher haben wir zum Ehrenpräsidenten Dr. Viktor Matejka gewählt, den früheren Kulturstadtrat von Wien, auf dessen Formulierung unsere Zielsetzung beruht und der ein einmaliges Beispiel in persönlicher Lauterkeit, Nachbarlichkeit, Konsequenz, Unabhängigkeit und demokratischer Unbeirrbarkeit vorgelebt hat.

Das Forum soll alle jene suchen, die im Goetheschen Sinn die nationalen Grenzen zur Menschheitbedeutsamkeit auf den drei Gebieten durchbrochen haben, und deren Anregung Menschen jeglicher Herkunft und Bildung zugänglich machen: nicht als Schulung oder Seminar, sondern als Anregung, durch Aufdecken großer Zusammenhänge und Eröffnung vergessenen oder unterdrückten Wissens, in ganzheitlicher Schau; also nicht als gelehrten Vortrag, sondern als zündenden Logos spermatikos, als schöpferisches Wort. Hierzu gilt es sich aller Polemik, aller negativem Prophetie zu enthalten und sich auf das Positive, die Auswege und neuen Möglichkeiten zu beschränken. So wichtig es ist, Missstände aufzudecken, es kann nur der positive Ansatz im Unterschied zu ideologischen Planungen die Hoffnung wieder geben, die durch die falschen Hoffnungen der totalitären Ideologien für viele vernichtet worden ist.

So wird sich das Forum der Maieutik, im Sinne des chinesischen Leitspruchs Wu Wei, wirken ohne zu streiten, als Ort der Versöhnung jenseits der vermeintlichen Gegensätze darstellen, jenseits aller Parteiung und ihrer Substantivierung, die falsche Götter schaffen, die dem einzelnen den, Weg zu seinem Sinn versperren.

Arnold Keyserling
Forum der Maieutik · 1999
in Wirtschaft, Politik und Kunst
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD