Schule des Rades

Arnold Keyserling

Chakrale Musik

Zwischen Zeugung und Tod

In der Musik steht der siebte Teilton intervallisch außer Zusammenhang mit den anderen; da die Schwingungen nur in sieben Schwerpunkte gegliedert werden, muss jeder ein Siebtel entfernt von der nächsten aktiviert werden können: die sieben Chakras wären daher durch den Maßintervall von 1/7 von einander getrennt, genau, wie dies die früher gezeigte strukturelle Darstellung der Chakras veranschaulicht.

Diese Trennung lässt sich phänomenologisch im Vorgang des Lebens verstehen: zwischen Zeugung und Geburt verlagern sich die Schwingungen von oben nach unten, und zwischen Geburt und Tod wandert der Schwerpunkt wieder zurück, wie es etwa das Tibetanische Totenbuch veranschaulicht:

1. 1-12: Der Schwerpunkt liegt auf dem Wachstum, der Ausbildung der Sinnesorgane mit dem Ende der Pubertät.
2. 12-24: Das Denken tritt in den Vordergrund, die Ausbildung der Sprache und der Kommunikation.
3. 24-36: Das Fühlen wird entscheidend, mit der Lösung von den Eltern, der Gründung der eigenen Familie und des materiellen Wohlstandes.
4. 36-48: In dieser Zeit des Willens heißt es sich durchsetzen, die soziale Stellung zu erreichen, die der eigenen Anlage die Auswirkung ermöglicht.
5. 48-60: Hier muss der Körper seinem Wesen nach verstanden werden, die Anlage sich verwirklichen. 60 ist das hippokratische Alter: von dort an werden Gebrechen zu Leiden.
6. 60-72: Die seelischen Verhältnisse treten in den Vordergrund, meistens der Versuch, in der Erinnerung mangelnde Kontinuität des Lebens nachzuvollziehen, etwa durch Memoirenschreiben.
7. 72-84: Der körperliche Organismus wird geschwächt, und die Vitalität ist nur noch geistig gesteuert — der geistig Rege bleibt jung bis zum Tode, der in unwahrscheinlich vielen Fällen (von der Statistik her gesehen) kurz vor der Vollendung des 84. Lebensjahres eintritt.

Nun geht der Weg zurück in 12 Jahresabschnitten (koinzidierend mit dem Umlauf des Jupiter):

Zwischen der Zeugung und der Geburt bzw. dem Erwachen der Sinnesorgane ist das Bewusstsein abwesend, im durchschnittlichen Lebenslauf ist es eine Begleiterscheinung der Funktionen, gleichsam ihre Rationalisierung. Der Schwerpunkt wechselt, aber auch im Tageslauf alternieren die den Funktionen entsprechenden Bewusstseinszustände, Wachen, Reflektieren, Träumen, traumloser Schlaf, wie das Radkreuz veranschaulicht:

Schlafen
Stille
Wollen
Wachen
Empfinden
Sinne
K r e u z
Träumen
Fühlen
Triebe
Reflektieren
Kommunikation
Denken

Hier nun liegt das fundamentale Problem der menschlichen Existenz; Bewusstsein kann Begleiterscheinung sein, es kann aber auch selbständig werden; und dies ist was die Mythen und Religionen als zweite Geburt, als Bekehrung oder als Umstellen der Lichter bezeichneten. Gemäß der islamischen Tradition der Sufi-Bruderschaften ist es der Natur gleichgültig, ob der Mensch eine Bewusstheit (fremdgesteuert) oder ein bewusstes Sein (autonom) hat; dennoch scheint das letztere das evolutionäre Ziel zu sein, wenn man die Symmetrie der Naturreiche betrachtet:

MenschPflanze
K r e u z
Tier
Einzeller

Der Einzeller ist relativ unsterblich, er endet nur durch Zufall. Pflanzen und Tiere sind sterblich, die Zellenkolonien fügen sich nur für eine gewisse Zeit unter einer unbewussten oder überbewussten Gattungsseele zusammen. Der Mensch müsste daher sowohl sterblich als auch unsterblich sein. Sterblich ist zweifellos sein vielzelliger Organismus, unter Einschluss vieler heute als seelisch und geistig gewerteter Zusammenhänge; man denke nur an die Möglichkeit, Gemütszustände chemisch zu induzieren, oder Wissen im Gehirn zu lokalisieren. Oder gar, wie manche Tierversuche zu beweisen scheinen, über die Nahrung aufzunehmen. Aber unsterblich wäre Etwas, das diesen Organismus gleich einem Gefährt verwendet: das wahre Bewusstsein, das die diskontinuierlichen Zustände zur kontinuierlichen Lebensmelodie zusammenfügt.

Arnold Keyserling
Chakrale Musik · 1999
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD