Schule des Rades
Arnold Keyserling
Die große Uhr
Der entscheidende Schritt in der deutschen Philosophie war die Vereinigung von Kant und Goethe.
Kant zeigte, dass die reine Vernunft nur die Möglichkeit erfasst, nicht aber die Wirklichkeit. Der Bereich der letzteren erfordert die praktische Vernunft, die formale Ethik, ausgedrückt in den kategorischen Imperativen: Handle so, dass du den Mitmenschen immer auch als Ziel und nicht nur als Mittel betrachtest. Die kreative Tätigkeit der Vernunft sah er in der Mathematik, die er als Kriterium aller Wissenschaft betrachtete, und bestimmte das Ziel der Philosophie in dem Postulat, die synthetischen Urteile a priori zu ermitteln. Er sah als deren Bereich die Zahlenwelt, sobald man sie dem kartesischen Prinzip der Vereinigung von Anschauung und Begriff, clare et distincte, unterordnet.
Das Zwölfeck ist theoretisch die Vereinigung von Pentagramm und Heptagramm, lässt sich aber geometrisch nicht aus den beiden Figuren konstruieren.
Kant hielt das Sein, das Ding an sich, nicht für erklärbar, sondern beschränkte die Philosophie auf die Welt der Erscheinungen und ihre begriffliche Ordnung.
Goethe nun sprach kurz vor seinem Tode zu Eckermann: mit Kant sei etwas Großes geschehen, doch müsse nun nach der Kritik der Vernunft ein anderer Philosoph die Kritik der Sinne klären. Er kam zu folgendem Postulat:
Das Höchste wäre zu erkennen, dass alles Faktische schon Theorie ist… man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.
Husserl vollendete die Phänomenologie, da er entdeckte, dass jeder Sinn eine systematische Grundlage habe, die es zu erkennen gelte; dann stöße man von der Information zur Wesensschau durch. Man erlebt ein Diesda, etwa einen Ton. Durch Erkenntnis von dessen Ort im System der Schallwelt vollzieht man seine Bestimmung und erkennt das Phänomen als wahr. In seiner Farbenlehre glaubte Goethe den Ansatz zu einer Kritik der Sinne gefunden zu haben, und betrachtete dies als seine größte Leistung.
In der Auffassung aller vorschriftlichen Traditionen ist die nachtodliche und geistige Welt ein Spiegelbild der unsrigen, also ebenfalls sinnlich. Wenn wir diesem Gedankengang folgen, dann müssen die Daten der durch Mathematik geklärten Naturwissenschaft zur existentiellen Wahrheit führen: Sein und Sinn erweisen sich als ergänzende Aspekte der Wirklichkeit und Möglichkeit.
Bei den Griechen waren Wahrheit und Unsterblichkeit synonym, aletheia. Der Durchschnittsmensch verliert im Hades im Durchschreiten des Flusses der Lethe, des Vergessens, die Erinnerung und damit seine Zeitperson. Henri Bergson hat diesen Sachverhalt folgendermaßen formuliert: memoire bezieht sich auf das gehirnmäßig lokalisierte Gedächtnis, während Erinnerung Teil an der schöpferischen Entwicklung hat, der évolution créatrice.
Die Forscher der letzten hundert Jahre — wie Einstein, Bohr, Heisenberg, und die Mathematiker Penrose, Gribbin und die Entdecker der Quantenmechanik, vor allem Schrödinger haben nun den Weg freigemacht, um die Daten der Naturwissenschaft mit unserer sinnlichen Alltagserfahrung zusammenzufügen.
Ich nenne diesen Aufsatz Die große Uhr
, meine griechisch damit nicht Chronos sondern Chairos, trächtige Zeit der Fügungen und Synchronizitäten im Sinne von C. G. Jung und Wolfgang Pauli.
Ich versuche die Entdeckungen und Daten so zu interpretieren, dass sie gleich den Sinnen bei Husserl zur Wesensschau und damit zur Befreiung des Menschen von den assoziativen Informationen führen, im Sinne der Exformation bei Nørretranders. Die Beschränkung auf Kriterien ermöglicht uns, in der Globalisierung das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, und damit Philosophie als den Weg der Weisheit im Sinne des Sokrates — als Vereinigung von Anamnese, Rückerinnerung und Maieutik, Hilfe zur Befreiung des Wesens zu verstehen. Hierbei beziehe ich Erkenntnisse der hermetischen und schamanischen Überlieferung gleichermaßen ein wie die Erkenntnisse der Physiker seit Quantenmechanik und Relativitätstheorie.
Die große Uhr ist die Vision des Rades, von der Merkabavision des Hesekiel bis zur Aussage des Jakob Böhme, dass Gott wie ein Rad sei, über das man sich nur wundern könne. Don Juan bei Castaneda bezeichnet dieses Anhalten der Zeit des Chronos als stopping the world
, der Yogasutra des Patanjali als citta vritta nirodha, durch Verlangsamung der Assoziationen kommen diese zur Ruhe und der Mensch ruht in seinem Wesen, in der Freudigkeit des Seins. Alle anderen Zustände seien leidvoll. Physikalisch ist das Vakuum, das Nichts der Leere des Raumes, die Voraussetzung des Etwas und der Nachvollzug des Moments der Schöpfung.
Gustav Meyrink, dessen Novelle Der Uhrmacher
ich mit einem Komentar zur Prager Esoterik herausgegeben habe, schreibt in seinen Erinnerungen, er saß auf einer Bank in Prag an der Moldau. Plötzlich sah er im Himmel eine riesenhafte Uhr, und in diesem Augenblick öffnete sich sein inneres Ohr, und er höhrte Stimmen des Jenseits.
Kant erklärte, wir müssten zwischen räumlicher Erfahrung und zeitlichem Erleben unterscheiden. Die physikalische Raumzeit ist Kriterium der Erfahrung, doch das existentielle Erleben der Dauer ist Zugang zur lebendigen Erinnerung, die über die drei Dimensionen der Zeit — Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft — hinausreicht und die Befreiung des Wesens und seine Vereinigung mit dem Göttlichen ermöglicht.
Ich erlebte das Rad, Die Große Uhr
am 4. Juni 1943, erkannte aber erst im Studium der Physik, was diese Vision bedeutet: Das Vakuum wird definiert als der Grundzustand der Materie, also der Zustand niederster Energie, wenn etwa im Wasserstoffatom sich die zwei Elektronen auf der ersten Schale befinden und damit alle Möglichkeiten der Entfaltung haben. In philosophischer Entsprechung wird in der Erkenntnis der Uhr als Ursprung allen zeitlichen Sinnes der Bewusstseinszustand erreicht, den Buddha als die Erleuchtung bezeichnet. Gelingt es diesen Zustand in der Meditation zu festigen, dann erreicht man das Gewahrsein des Lao Tse:
Wer mit klarem Blicke alles durchschaut,
kann wohl ohne Kenntnisse bleiben.
Hierzu muss er in der Exformation alle Information auf die Grundbegriffe zurückführen, was allein eine wahrheitsgemäße Einsicht ermöglicht.