Schule des Rades

Arnold Keyserling

Evolutionstheorie und Religion

Gespräch Teil 6

F. K.
Karl Popper hat das mit hoher Wissenschaftlichkeit in sehr ähnlicher weise dargestellt: Die Theorien kommen durch kreative Intuition in die Welt, und sie werden deduktiv überprüft oder widerlegt. Also nichts kommt durch Induktion, also durch Einzelinformation aus der Welt in die Welt, sondern alles ist vom Anfang an Theorie, Entwurf. Hier konvergiert modernste Wissenschaftstheorie mit Hirnhemisphärenforschung und Mystizismus à la Keyserling.
A. K.
Marilyn Ferguson sagt, erst wenn es einem gelingt, Schule und Universität zu überstehen, kann man kreativ werden. Aber unsere gesamte Erziehung, unsere gesamte Universität ist im Augenblick auf einem Gehirnmodell, auf einem Geistmodell aufgebaut, das von diesen Erkenntnissen nichts weiß. Und das ist eine absolute Katastrophe.
F. K.
Zurück zum Thema Evolution. Wenn man die wissenschaftlich fundierte Evolutionstheorie an die Religion heranführen will — ich beziehe mich jetzt auf Ditfurth mit seiner Vorstellung der expandierenden kognitiven Horizonte — lösen sich die Widersprüche allmählich auf. Die kognitiven Horizonte nach Ihrer zwei-hemisphärischen Auffassung sind allerdings, hat man nur die abendländische Wissenschaft vor Augen, anderer Natur als die kognitiven Horizonte Ditfurths.
A. K.
Die abendländische Wissenschaft ist eine Brille. Und es gibt sehr viele Brillen. Man sieht nur das, was man zu sehen gewohnt ist, was man sehen will. Und es ist etwas ungeheuer Wichtiges, aus dieser Gewohnheit auszusteigen. Im Augenblick sind die Wissenschaftler auf der ganzen Welt dabei, auszusteigen. Die gemeinsamen Nenner werden immer klarer.
F. K.
Noch einmal zu Hoimar von Ditfurth: Seine Vorstellung der in der Evolution, also in der Zeitdimension sich ändernde kognitive Horizont, die das diesseits und jenseits trennen, ist sehr beeindruckend. In dieser Vorstellung, die abendländisch wissenschaftsbezogen ist, wächst der kognitive Horizont sozusagen ununterbrochen, wenn auch schrittweise von der komplexen Molekularstruktur der Blaualge und allen weiteren Evolutionsstadien hinauf bis zum Menschen, und in der Kultur wieder kontinuierlich im Zuge der immer komplexeren Theorienbildung bis zu Albert Einstein, wenn man so will; der nächste kognitive Horizont, den Ditfurth hochrechnet, ist der, der jenseits unseres derzeitigen Horizionts liegt. Aus Ihrer Sicht ist das nun komplizierter, weil der gegenwärtige kognitive Horizont nicht eindeutig gegeben ist. Nach dem was Sie sagen, gäbe es in den verschiedenen Entwicklungsstadien sehr viel komplexere Horizonte, und die Erweiterung unseres Horizonts ist nicht nur möglich mit der Erreichung der nächsten Stufe der Hirnkomplexität, sondern vielleicht auch durch Rückgriff. Oder durch Ausschöpfung der bereits vorhandenen und brachliegenden Potentialität unseres Gehirns.
A. K.
Sie ist durch sehr einfache Methoden körperlicher Art, bewegungsmäßiger Art, durch Aktivierung des Stammhirns möglich. Rückschritt kann sehr wohl Fortschritt sein. Vor zwanzig Jahren wäre das indianische Denken absolut unverständlich gewesen.
F. K.
Bleibt man bei den kognitiven Horizonten, heißt das: Der Rückgriff oder die Besinnung oder das Ausgraben, das Sich-bewusst-Machen bereits früher erlangter kognitiver Horizonte ist ein möglicher Entwicklungsschritt.
A. K.
Ein echter Entwicklungsschritt insofern, als die Entdeckung der Altsteinzeit rechtshirnig waren. Das heißt, es war für einen Menschen der damaligen Zeit unmöglich, seine Strategie wichtiger zu nehmen als seine Vision. Nächste Entwicklungsstufe: das Orakel. Aber auch den Stimmen des Orakels musste man folgen; und diese Stimmen waren Inspiration. Diese magische Dimension ist rational verschüttet worden. Heute scheint es ja gefährlich, wenn jemand durch Stimmen zustande bringt, die Beziehung zwischen innen und außen wiederherzustellen. Nun gibt es aber wirksame neue Psychotechnologien, die magische Dimensionen einbeziehen.
F. K.
Das heißt: Die Erweiterung des kognitiven Horizonts, der Diesseits-Jenseits-Schranke, der Immanenz-Transzendenz-Abgrenzung ist nicht etwas, worauf man nach Gesichtspunkten der biologischen Evolution warten muss. Also nicht: Wann wächst uns die nächste Hirnwindung, der nächste Quadratzentimeter Hirnrinde?, sondern: Unsere reale Chance ist, die vorhandene Hirnkapazität auszuschöpfen. Eine Hirnkapazität, die in früheren Intensivkulturen einen weiteren, komplexeren Wirkungsrahmen hatten. Vielleicht ist so auch die Abgrenzung von Immanenz undTranszendenz zu überwinden…
A. K.
Diese Abgrenzung ist ja ein Produkt des linken Gehirns. Das magisch denkende Kind spielt seine Aktionen und braucht nicht eine Psychoanalyse seiner Träume — es träumt. So wie Kinder haben Menschen ursprünglich ihren Zusammenhang mit Pflanzen und Tieren erlebt. Er ist verlorengegangen. Und jetzt kommt er in einer gewissen Weise wieder zurück. Wir sind ja aus dem selben Stoff gemacht. Und die Fähigkeiten, die der Mensch hatte, die andere Kulturen entdeckt haben, kann er wieder haben. Tragischerweise gehen jetzt die Völker, die eine starke spirituelle Tradition haben, die Inder, Chinesen, Afrikaner, zuerst einmal davon ab. Sie verleugnen erst einmal ihre Vergangenheit. In Afrika verbieten alle Regierungen vorerst die Magie und die traditionelle Medizin, während die europäisch-amerikanischen Anthropologien entdecken, wieviel wertvolles darin steckt. Das Abendland von Aristoteles bis Einstein ist also offenbar eine Schule, durch die alle durchmüssen. Und eine notwendige Schule, damit die Menschen demokratisch leben können, damit nicht die Stammeskultur die einzige ist, sondern die Individualität ins Spiel gebracht wird.
F. K.
Aber das Ergebnis der linkshirnbestimmten rationalistischen Phase müsste eine Rückkehr zur Rechtshirndominanz sein. Der Nobelpreis für Sperry könnte ja ein Signal sein.
A. K.
Die Chinesen waren schon Jahrtausenden soweit: Sie sagen, die rechte Hand des Menschen ist Yin und die linke ist Yang. Das heißt, die linke, Yang, ist das Dominante…
F. K.
Weil die rechte Hirnhälfte die linke Hand innerviert…
A. K.
Und die linke Hirnhälfte die rechte.
Arnold Keyserling
Evolutionstheorie und Religion · 1999
im Gespräch mit Franz Kreuzer
© 1998- Schule des Rades
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