Schule des Rades
Arnold Keyserling
Klaviatur der Kreativität
Gott · Raum · Zeit · Zahl
Gott ist keine Hypothese, kein Glaubensartikel, sondern die Urwirklichkeit des Seins. Während andere Lebewesen eingeordnet sind in die Zweiheit von Gattung und Einzelwesen mit seiner Überlebensstrategie, ist für den Menschen das Um-greifende das Weltall und damit der ganze Kosmos: sowohl der Makrokosmos des All, als auch der Mikrokosmos der kleinsten Materieeinheiten vom Quark bis zum Molekül.
Der Aufbau des Makrokosmos und Mikrokosmos folgt den Gesetzen der Zahlen und Rechnungsarten. Die Materie und Naturwissenschaft wird durch den Raum verständlich, und ist gültig innerhalb seines Rahmens: seit Galilei und Newton beschränkte sich die philosophische Grundlagenforschung auf das Bleibende im Wandel, auf die Naturgesetze, die dem Menschen die Meisterung seiner Umwelt und Wirkwelt ermöglichen. Gesetze dieser Art sind reversibel, zeitlos. Erst mit Prigogine wurde erkannt, dass die Zeit eine ebenso große Bedeutung für das Wissen und Verstehen hat wie der Raum. Aus Unordnung entsteht in der dissipativen Ordnung eine höhere Struktur. Und die tödliche Gleichförmigkeit der Entropie betrifft nicht die kreative Evolution, wie sie Bergson geschildert hat die Zukunft und das Ereignis, ja die Geschichte als narrative Beschreibung und Grundlage der Kultur und der Geisteswissenschaften muss ihren Platz wieder finden. Wichtiger als das statische Sein ist das Werden als Maß unserer schöpferischen Evolution.
Wir unterscheiden vier Arten von Phänomenen: deterministisch, stochastisch, reversibel und irreversibel.
- Deterministisch war die Welt Newtons, die Vorstellung von bleibenden Gesetzen, die dem Wandel zugrunde liegen und die auf reduktionistische Weise entdeckt wurden.
- Stochastisch sind unvoraussehbare Phänomene, die dem Zufall ihr Dasein verdanken.
- Reversibel, der klassische Grundbegriff der Physik, leugnet die Eigenheit der wissenschaftlichen Bedeutung der Zeit.
- Irreversibel bestimmt die Entstehung eines neuen Zusammenhangs.
Von Prigogine stammt der Begriff der dissipativen Ordnung, dass das Chaos, das Ungleichgewicht, die Materie und Wirklichkeit hervorbringt. In seinem letzten Buch Die Erforschung des Komplexen
, welches bisher nur Kennzeichen des Lebens und der Kultur war, zeigt er, dass die Evolution sich als Hervorbringer des Komplexen begreifen lässt — ein Zusammenhang, der viele Parameter einschließt und auch für die Materie selbst gültig ist.
Komplexität wird durch eine bestimmte Anzahl von Parametern bestimmt. Dissipative Ordnung bedeutet Offenheit und Austausch mit der Umwelt. Beim Menschen ist diese nur harmonisch, wenn er von einem Weg, einer Aufgabe, einer Berufung getragen wird, wie wir später ausführen werden.
Gott ist das unendliche Sein, Raum die unendliche Ausdehnung, Zeit ewiger Ursprung, und die Zahl ist unendliche Schöpfung und Wortwerdung. So ist auch der Mensch unendlich, der sein Leben im Sein Gottes gefunden hat.