Schule des Rades
Arnold Keyserling
Konkretes und abstraktes Denken bei Lévi-Strauss
Strukturalismus
Der Strukturalismus von Lévi-Strauss hat viele Ahnen: die österreichische Gestaltpsychologie, die Linguistik von Ferdinand de Saussure, und die Anthropologie von Marcel Mauss. Seine Begründer wollten einen neuen fruchtbaren Ansatz für die ethnologische Forschung erhellen. Doch dieser Ansatz hat sich nicht nur für das wissenschaftliche Denken fruchtbar gezeigt; er hat auch der Philosophie neue Einblicke eröffnet. Den Zugang zu diesen Einblicken finden wir in dem Buch Das wilde Denken
, in der Unterscheidung von konkreter und abstrakter Wissenschaft.
Unter konkreter Wissenschaft versteht Lévi-Strauss den Niederschlag jenes Denkens, das gewöhnlich als magisch bezeichnet wird: die Suche nach analogen Gesetzen, wie man etwa im Sinne der Signaturenlehre des Paracelsus aus der Ähnlichkeit einer Pflanze mit einem menschlichen Organ auf eine entsprechende Heilwirkung schließen könne. Lévi-Strauss wählt diese Bezeichnung aus zwei Gründen:
- einerseits, weil das magische Denken von Vertretern der positiven Wissenschaft als Illusion bezeichnet wurde,
- und andrerseits, weil fast alle Entdeckungen der Frühzeit, insbesondere der ersten neolithischen Revolution mit ihrer Erfindung von Tierzucht, Pflanzenzucht, Weberei und Keramik an praktischer Bedeutung den wissenschaftlichen Entdeckungen der Neuzeit um nichts nachstehen.
Das Ausgehen von analogen Beziehungen, von Korrespondenzen im Sinne der Renaissance führt nicht notwendig in die Irre:
…Obwohl es zwischen den sinnlichen Qualitäten und den Eigenschaften keinen notwendigen Zusammenhang gibt, besteht in einer großen Anzahl von Fällen eine tatsächliche Beziehung, und die Verallgemeinerung dieser Beziehung, selbst wenn sie für die Vernunft unbegründet ist, kann sehr lange Zeit ein theoretisch und praktisch lohnendes Verfahren darstellen. Nicht alle Giftsäfte sind bitter und brennend, und das Gegenteil ist ebensowenig wahr. Dennoch ist die Natur so eingerichtet, dass es für das Denken und Handeln rentabler ist, so vorzugehen, als ob eine Äquivalenz, die das ästhetische Gefühl befriedigt, auch einer objektiven Wirklichkeit entspräche. Es ist wahrscheinlich, dass die Arten, die hinsichtlich Form, Farbe und Geruch einige auffällige Merkmale tragen, dem Beobachter das eröffnen, was man ein Recht zur Folgerung nennen könnte: das Recht nämlich, zu postulieren, dass sichtbare Merkmale auf besondere, doch verborgene Eigenschaften hinweisen. Zugegeben, dass die Beziehung zwischen beiden selbst sinnlich wahrnehmbar ist (dass ein Korn in Form eines Zahnes gegen Schlangenbisse schützt, dass ein gelber Saft ein Spezifikum gegen Gallenstörungen ist usw.) ist es vorläufig besser, diese Korrespondenzen zu beachten, als jedem Zusammenhang gegenüber gleichgültig zu sein; denn die Klassifizierung wahrt, selbst wenn sie ungleichmäßig und willkürlich ist, den Reichtum und die Verschiedenheit dessen, was sie erfasst. Indem sie bestimmt, dass allem Rechnung zu tragen sei, erleichtert sie die Ausbildung eines Gedächtnisses.
In seiner Strukturalen Anthropologie
führt Lévi-Strauss die Bedeutung dieses sozialen Gedächtnisses weiter aus, indem er nachweist dass dessen Funktion nicht so sehr die Übereinstimmung mit der Wahrheit — die doch für die meisten unerkennbar wäre — als vielmehr die Wahrung der sozialen Gemeinsamkeit bleibt, also die Identität der Gruppe bedeutet. Um handeln zu können, bedarf der Mensch eines Hintergrundes, dessen Struktur ihm ebenso unbewusst bleibt wie jene der Grammatik beim Sprechen, welche aber letzten Endes sein Denken und Handeln determiniert. Solange eine Gemeinschaft nicht an dieser Ideologie zweifelt — d. h. solange sie abgeschlossen lebt — erreicht sie im Laufe der Zeit durch Ausschaltung der gröbsten Irrtümer eine gewisse Anpassung an die Wirklichkeit, die erst dann verloren geht, wenn sie durch Kontakt mit andersartigen Gruppen in Frage gestellt wird. Ist dies der Fall, so bedeutet es den sozialen Tod der jeweiligen Stammeskultur, wie wir dies heute immer wieder beim Vordringen der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation in bisher unberührte Völkerschaften beobachten können.
Bringt dieses wissenschaftliche Denken nun eine Übereinstimmung mit der Wahrheit, also ein Ende der Illusion des konkret-magischen Weltbildes, beziehungsweise dessen Berichtigung durch Rückführung der Theorien auf unbezweifelbare Kriterien, wie dies die optimistischen Vertreter des Szientismus im 19. Jahrhundert geglaubt haben? Mitnichten; die Basis der modernen Wissenschaft ist einerseits die Abstraktion, die nicht auf Erklärung, sondern auf tatsachengerechte Beschreibung der Vorgänge und Zusammenhänge hinzielt, andrerseits die Induktion mit ihrer Hypothesenbildung, die keinen absoluten, sondern einen relativen heuristischen Wert besitzen und immer wieder durch neue Forschungsergebnisse überholt werden.