Schule des Rades
Arnold Keyserling
Konkretes und abstraktes Denken bei Lévi-Strauss
Reflexion
Während im Tierreich die instinktmäßige Verschmelzung von Sinnen und Trieben zu bedingten Reflexen die Anpassung der Art ermöglicht, führt sie beim Menschen ins Gegenteil, da weder Wachen noch Träumen, sondern die sprachliche Reflexion, das potentiell bewusste Gedächtnis die Grundlage seiner Existenz bildet.
- Dies bringt uns zur vierten Sphäre, dem eigentlichen Unbewussten. Es bildet den Gegensatz des sprachlichen Gedächtnisses. In jeder Sprache gibt es einen Untergrund, der unbewusst bleibt, weil er das Medium der Verständigung bedeutet — die Grammatik und die Syntax. Man kann nicht gleichzeitig auf den Sinn, die Botschaft eines Satzes, und auf seine logische und grammatikalische Subjekt-Prädikat-Struktur achten. Hier hat Lévi-Strauss seine wesentliche Entdeckung gemacht: die Sphäre des Unbewussten ist jene der Gesetze und Prinzipien, die der Sprache zugrundeliegen. Da sie unbewusst sind, vereinigen sie sich mit allen jenen Vorstellungen, die einer bestimmten Ideologie selbstverständlich und damit tabuiert sind, also auch jener Ideologien des Marxismus und Positivismus. Diskutieren kann man nur im Rahmen gegebener sprachlicher Vorstellungen; nur auf sie finden die Gesetze der Logik — der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten — Anwendung, nur hier gibt es Überzeugung und Gegnerschaft.
Aber die Gesetze haben einen eigenen Ursprung, einen metalogischen und metasprachlichen, der unbewusst ist. Bleibt er dies, so prallen die Meinungen notwendig aufeinander und das letzte Wort wäre jeweils ein Kompromiss ganz im Sinne des positivistischen Wahrheitsbegriffes, der von einer Vielzahl der Meinungen ausgeht. Nun ist aber die Grundlage der Sphäre des Unbewussten nicht das Denken, sondern das Wollen. Es wird bestimmt durch die Wahl der Prinzipien, innerhalb derer sich sprachliche Formulierungen finden und folgern lassen. Dies war seit jeher das eigentliche Feld der Philosophie, sodass wir über Lévi-Strauss zu einer unerwarteten These kommen: Gegenstand der Philosophie wäre nicht die Erhellung des Denkens etwa im Sinne Kants, sondern die Klärung der Voraussetzungen des Wollens; und während die Gefahr in der senkrechten Achse des Radkreuzes die Vermischung von Wunsch und Wirklichkeit, Traum und Erfahrung ist, wäre hier die weit größere Gefahr eine Vermischung von disputativem Denken und Wollen — gefährlicher deswegen, weil das Denken auf das Allgemeine hinzielt und daher den Einzelnen und seine mögliche Bestimmung mit bestem Gewissen vergewaltigt.
Die moderne Zivilisation ist in der Hauptsache im disputativen Denken angesiedelt, sowohl in dessen abstrakter Sphäre, wie bei Juristen, Wissenschaftlern und Soziologen, als auch in der konkreten des wirtschaftlichen Lebens, wo sich der Mensch dem Kreislauf der Güter nach Maßgabe von Angebot und Nachfrage unterordnet. Die hieraus resultierende Lage ist ernster, als die Kritiker der modernen Zivilisation vermuten: durch diese Art des Denkens begibt sich der Mensch seines freien Willens, da er sich bewusst entweder auf die Anpassung an die Wirklichkeit im wirtschaftlichen Sinn, oder auf die jeweils geforderte theoretische und technische Leistung, die Lösung eines gegebenen Problems richtet, womit das Streben notwendig ein Ende hat.
Damit verkümmern jene Seiten des Menschen, die aus historischen oder umweltlichen Zufällen den aktuellen Lebensbedingungen nicht entsprechen.
Eine einzige menschliche Tätigkeit ist zufolge Lévi-Strauss diesem circulus vitiosus entrissen: die künstlerische, vor allem in Form des Bastlers, dem heute nur als beliebte Freizeitgestaltung ein Daseinsrecht eingeräumt wird. Der Bastler unterscheidet sich vom wissenschaftlichen Denker oder Techniker darin, dass er sich in seinem Handeln nicht nach äußeren Problemen richtet, sondern nach Art und Anwendungsbereich der ihm zur Verfügung stehenden Werkzeuge. Was immer einmal Verwendung gefunden hat, wird aufbewahrt, um vielleicht einer neuen zugeführt zu werden.
…Sehen wir einmal dem Bastler beim Arbeiten zu. Von seinem Vorhaben angespornt, ist sein erster praktischer Schritt dennoch retrospektiv: er muss auf eine bereits konstituierte Gesamtheit von Werkzeugen und Materialien zurückgreifen… vor allem muss er mit dieser Gesamtheit in eine Art Dialog treten, um die möglichen Antworten zu ermitteln, die sie auf das gestellte Problem zu geben vermag.
Ein Eichenblock kann als Stütze dienen, der Unzulänglichkeit einer Fichtenbohle abzuhelfen; oder auch als Sockel, was die Möglichkeit böte, die Maserung und die Politur des alten Holzes zur Geltung zu bringen. Im einen Fall wäre seine Form ausschlaggebend, im anderen sein Aussehen. Aber diese Möglichkeiten bleiben immer durch die besondere Geschichte jedes Stückes begrenzt und durch das, was an Vorbestimmtem in ihm steckt… Wie die konstitutiven Einheiten des Mythos, dessen Kombinationsmöglichkeiten durch die Tatsache begrenzt sind, dass sie einer Sprache entnommen sind, in der sie schon einen Sinn besitzen, der die Manövrierfreiheit einschränkt, sind auch die Elemente, die der Bastler sammelt und verwendet, bereits von vornherein eingeschränkt.
Versenken wir uns in die Psychologie des Bastlers, auf theoretischem Gebiet dem Dilettanten im Gegensatz zum Fachmann verwandt, so halten wir in ihm den Schlüssel zu einem autonomen Willen: wenn es gelänge, die gesamte menschliche Existenz, die Vielzahl ihrer Komponenten im gleichen Sinn zur Verfügung zu haben wie der Bastler seine Werkzeuge, so hätten wir die tatsächliche Autonomie erreicht, die wirkliche Freiheit des Willen, die nicht als Freiheit von äußerem Zwang, sondern als Meisterschaft zu erkennen ist. Dies räumt der Sphäre der Kunst eine größere Bedeutung ein, als ihr von der demokratischen Konsumgesellschaft oder der kommunistischen Planungsgesellschaft zugesprochen wird, und zwar der großen Kunst: während der Bastler letzten Endes wie der Dilettant die Gestaltungsmittel seinen Neigungen Unterordnet, hat der schöpferische Künstler die Bewusstseinsebene oberhalb seiner raumzeitlichen Struktur erklommen; aus ihr heraus werden seine persönlichen Anlagen in gleichem Sinne zum Werkzeug wie die technischen Mittel, deren er sich bedient.