Schule des Rades
Arnold Keyserling
Astrologie und Kriteriologie
Die subjektive Bemächtigung der Kriterien
Die allmähliche Entdeckung dieser Grundfigur des RADES habe ich in meiner Geschichte der Denkstile
geschildert, seine Struktur als System der Erkenntnis und des elementargesetzlichen Gliederbaus der Wirklichkeit im Rosenkreuz
und anderen Büchern darzustellen versucht. Aber da es sich dabei nicht um ein philosophisches System im Sinne einer persönlichen Weltanschauung handelt, sondern um die objektiven Gesetze der Wirklichkeit, deren Innewerden eine persönliche Transzendierung der Tiefschlafschwelle verlangt, ist das bloß kritische Studium nicht ausreichend; es kann nur die Richtigkeit sowohl der Prämissen als auch des Systems selber erweisen.
Die wirkliche Bedeutung liegt in dem, was von Pythagoras als Esoterik im Unterschied zur exoterischen Wissensaufnahme bestimmt wurde — in der subjektiven Bemächtigung der Kriterien, die auf zwei Weisen zu geschehen vermag: einerseits durch Vertiefung des Bewusstsein über praktische Übungen, im Sinne des Yoga, und zweitens über Erkenntnis der eigenen raum-zeitlichen Struktur der Persönlichkeit als Werkzeug der Existenz im Sinne der Astrologie — allerdings einer Astrologie, die in Methodik und Zielsetzung mit Ausnahme der astronomischen Technik nur wenig gemein hat, weshalb wir sie besser als Kriteriologie bezeichnen wollen.
Einen Zugang zu dieser neuen philosophischen Disziplin gibt uns die kantische Formulierung, derzufolge der Raum die Dimension der äußeren, die Zeit die Dimension der inneren Erfahrung sei, oder auch die bergsonsche, welcher in der erlebten Dauer das Medium der seelischen Existenz vermutete. Die traditionellen Ideologien hatten nun nicht nur den Raum der Existenz im jeweiligen Reich oder nationalen Verband abgesteckt — sie hatten auch die zeitliche Existenz einer dramatischen Vorstellung eingeordnet; sei es die augustinische vom Paradies über Sündenfall, Erlösung, Jüngstem Gericht zur Auferstehung, oder die marxistische mit dem erhofften Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, oder sei es die einfache Nachfolge großer Persönlichkeiten, von Heiligen und göttlichen Inkarnationen, die einen bestimmten Weg zur Vollendung vorlebten und offenbarten. Ohne diese Mythologie oder Ideologie hatte kein Stamm, kein Volk und keine Gemeinschaft einen Kulturrahmen finden können. Alle diese dramatischen Vorstellungen bedeuten eine gewisse Synthese von Zeitelementen, gleichsam eine Melodie, der sich der Einzelne fortan gleichsam als Instrumentalist unterordnete. Heute hingegen hat jeder Mensch das Bedürfnis, zu seiner eigenen Melodie zu kommen, da keine der traditionellen auf seine psychische Struktur maßgeschneidert ist. Daher gilt es den objektiven Urgrund zu erkennen, auf dessen Urstimmung sich alle dramatischen Wege abspielen.
Er findet sich in der Strukturierung der Zeit, deren Wesen von der mathematischen vierten linear vorgestellten Dimension im Sinne Einsteins nicht erfasst worden ist; denn Zeit ist genau wie Raum nur in Funktion gegebener Größen erkennbar; und die gegebenen Größen sind die tatsächlichen Bewegungen, die sich zwischen Erde, Sonne, Mond und Planeten abspielen und deren Gesetz wir in Nachfolge des Pythagoras nicht durch zahlenmäßige Gleichungen, sondern durch die Verhältnisse von Tönen und Intervallen ergründen.
Eine Zeitfolge lässt sich vom Bewusstsein nur in Form einer musikalischen Reihe integrieren: sei diese auf Tonschritten gegründet wie bei einer Melodie, oder auf Rhythmen als regelmäßiger Wiederholung von Tönen. Zwischen Rhythmus und Ton besteht kein Wesensunterschied; als Rhythmen nehmen wir jene Schwingungen wahr, deren Frequenz unterhalb der Hörgrenze von sechzehn pro Sekunde liegt. Diese sechzehn Schwingungen als oktaviertes Vielfaches des Erdmaßes der Sekunde werden vom Gehör als Grundtonwert c erkannt, welches c nicht mit sämtlichen Schallschwingungen, sondern nur mit einer begrenzten Anzahl von ihnen in möglicher Resonanz steht: mit jenen, die in einem der Zahlenverhältnisse von 1-10 (mit Ausnahme der 7) zu ihm stehen. Jeder von einem regelmäßigen Körper erzeugte Ton hat als Obertöne oder Untertöne diese Sekundärschwingung. Somit ist für unser Erleben die Zeit in ihrem mathematischen Ursprung nicht gleichmäßig fließend, sondern artikuliert und strukturiert. Ferner ist die Anzahl der Tonwerte nicht unendlich: aus dem Fortschritt des dritten Obertons, der Quinte, ergibt sich bei geometrischer Abstimmung der Intervalle ein Kreis von zwölf Tonwerten, der als Urstimmung alle Intervallschritte in sich umgreift und gleichzeitig das System zum Abschluss bringt.