Schule des Rades
Arnold Keyserling
Astrologie und Kriteriologie
Mitarbeit an der Geschichte
Die Auseinandersetzung über die Begründung des Horoskops geht schon über die Jahrtausende. Wäre dieses die kausale Determinante des Schicksals, dann müsste sie im Augenblick der Befruchtung festgelegt werden, wie sich sowohl indische als auch chinesische Astrologen bemüht haben, den Moment der Empfängnis zu errechnen.
Doch tatsächlich handelt es sich um die besondere Grundstimmung der Funktionen, Bereiche und Impulse, die im Augenblick des ersten Atemzuges, durch Beginn des persönlichen Sauerstoffhaushaltes ihre Festlegung im Großhirn erfahren, weil dieser das eigenständige Funktionieren der Assoziationen bedingt. Die Anzahl der Komponenten ist bei jedem Menschen gleich; die Verschiedenheit der Individualitäten ergibt sich aus der besonderen Kombination, die als Qualität in Entsprechung zu den tatsächlichen Raumzeitfaktoren des Geburtsmoments steht.
Diese Folgerung ist nicht so erstaunlich, wie sie auf ersten Anhieb erscheint. Jede qualitative Sinneswahrnehmung, etwa ein Ton oder eine Farbe, lässt sich als Wechselbeziehung von Maß und Schwingung, Raum und Zeit bestimmen. So handelt es sich bei Erkenntnis der Grundstimmung nur um den umgekehrten Weg: es gilt aus Räumen und Zeiten die entsprechende Qualität zu erschließen.
Die Grundstimmung bildet die geistige Struktur des Menschen und stellt den Gegenpol der körperlichen dar; denn auch körperlich beruht die Erbanlage und Konstitution eines Menschen auf der besonderen Kombination der Gene der elterlichen Chromosomen.
Genstruktur als Basis des Körpers und Grundstimmung als geistiges Potential sind nicht identisch; zwischen ihren beiden Polen entfaltet sich die menschliche Seele. Zwar ist auch die Grundstimmung in die Erbfolge einbegriffen: ohne zeitliche Beziehung zur geistigen Struktur der Eltern wird niemand geboren, da er sonst keine Anknüpfungsmöglichkeit an deren Lebensform fände. So haben manche Astrologen wie K. E. Krafft die Wiederkehr gleicher Konstellationen über mehrere Generationen nachgeprüft. Dennoch bleibt diese Polarität das menschliche Spannungsfeld: die Erbstruktur bedeutet im Sinne Freuds das Es, die Summe der auf Erfüllung gerichteten Triebe; die Grundstimmung, im Zusammenhang mit der elterlichen Tradition, das Überich, das bestimmte Ideale und Pflichten auferlegt. Und zwischen den beiden entfaltet sich die Existenz — d. h. sie kann sich entfalten, sofern diese Grundspannung zwischen Geist und Körper akzeptiert wird.
Diese Existenz ist nur personal-seelisch zu verwirklichen; ein geistiges Leben ohne Bezug auf das Unterbewusste im Sinne des Intellektuellen und Theoretikers führt in die gleiche Entpersönlichung wie die persönliche Triebverfallenheit; in noch höherem Maße, weil der körperlich Süchtige jederzeit das Missliche seiner Lage spürt und zur Umkehr bereit sein kann, während der geistig Verhaftete seine Einstellung, oft noch unterstützt von der jeweiligen Ideologie, verantworten zu können vermeint.
Grundstimmung Urstimmung Geschichte Erbstruktur
Somit bildet zur subjektiven Achse Es-Überich, Erbstruktur-Grundstimmung, die objektive Spannung zwischen der Urstimmung der Kriterien und der Mitarbeit an der Geschichte die notwendige Ergänzung. Doch um diese Objektivierung zu erreichen, gilt es die Schwelle des Tiefschlafs in tieferer Form zu verstehen: als Tor zum Tod, zum Jenseits und zur Transzendenz.