Schule des Rades

Arnold Keyserling

Rückkehr des Selbstverständlichen

Triebstruktur als Grundlage der Religion

Mircea Eliade sagt: Gott ist jene Macht, die sich als stärker erweist als das Individuum. Werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Religion. Vor etwa 11.000 Jahren gab es einen Bruch in der Symbiose zwischen Tier und Mensch, den die französische Anthropologie als neolithische Revolution bezeichnet: die Sprache verdrängte die Instinkte. An deren Stelle trat die Familie und die soziokulturelle Tradition, die meistens an Leben und Werk eines Kulturheroen anschloss. Doch die Gottheit blieb hinter den Instinkten:

  • hinter der Selbsterhaltung stand die Erdgöttin;
  • hinter der Arterhaltung der Himmelsgott;
  • hinter der weiblichen Kraft stand der Mond;
  • hinter der männlichen Kraft die Sonne.

An die Stelle des arttypischen Rituals der Tiere trat das Wort, die Fähigkeit der Sprache, oder:

  • der Wortgott, der sich inhaltslos als Stimme und inhaltlich als die Vision der vollendeten Menschheitszivilisation offenbarte.

In keinem der fünf Punkte ist der Mensch selbständig und autonom, wie dies die Aufklärungsphilosophie fordert. Die Gefahr ist vielmehr, dass eine Akzentuierung einer der Triebe zum Nachteil der anderen stattfindet. Beispiel:

  • Wird der Arterhaltungstrieb zur Tradition, dann erleben wir die Theokratie, die Inquisition, in banaler Form den Kommunismus.
  • Wird der Selbsterhaltungstrieb zum einzigen Wert erklärt, so haben wir den Liberalismus und Kapitalismus, auch den Sozialdarwinismus.
  • Wird das Bild des Mannes geheiligt, dann entsteht die patriarchale Religion mit all ihren heute gebrandmarkten Auswüchsen.
  • Wird die Frau zum einzigen geheiligten Wert erklärt wie bei manchen Feministinnen, so ist alles geistige Streben eine Illusion, so wie es C. G. Jung karikierte: Der Sinn der Welt sei die ewige Wiederholung; und dass Hans und Grete sich finden.
  • Hält der Mensch sich nun für den Schöpfer der Zivilisation, glaubt er gar, alle Zivilisationen seien allein aus seinem Denken geboren, so entsteht jene Überheblichkeit, wie sie die Neuen Linken vertreten.

In den Collogues de Cordouve von 1981, getragen von France Culture, kamen die eingeladenen Religionsphilosophen und Naturwissenschaftler jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis: Fast jede große wissenschaftliche und künstlerische Entdeckung der Neuzeit entstammt einer Intuition, einer Inspiration und nicht dem kritischen Denken. Mozart erklärte: Ich habe alle meine Symphonien in einem Guß von Gott empfangen; aber ich freue mich, dass Gott im Mozartschen Stil komponiert hat.

Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft gezeigt, dass eine materiale Ethik aus falschen Denkschlüssen, der Verwechslung der Möglichkeit mit der Wirklichkeit entstehe. Man müsse die Ethik im kategorischen Imperativ immer wieder neu wollen; nie wäre sie errungener Besitz.

Das kritische Denken der Aufklärung hat zweifellos in der Zerstörung der oben geschilderten falschen Substantivierung der Triebe Positives geleistet. Aber wenn nun das kritische Denken sich an die Stelle der Offenbarung setzt, wie in den letzten Jahrzehnten, da global gesehen jede überkommene Religion machtlos wurde, dann verliert der Mensch seinen Lebenssinn. Seine Unendlichkeit, sein Lebenssinn ist nicht die Infragestellung des Göttlichen in ewiger Forschung oder im Konstruktivismus, sondern die Dichtung seines Lebens, die Poetik, wie Sokrates sie geschildert hat.

Das Verständnis dieser entscheidenden Kriterien ist uns durch eine weitere Entfaltung zugänglich geworden: durch das dreifältige Gehirn, wie Pribram und MacLean es dargestellt haben, sowie die verschiedene Bedeutung der beiden Großhirnhemisphären.

Arnold Keyserling
Rückkehr des Selbstverständlichen · 1984
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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