Schule des Rades

Arnold Keyserling

Rückkehr des Selbstverständlichen

Sinnfindung im Spiegel der Hirnfunktionen

Sir John Eccles hat gezeigt, dass Selbsterhaltungs- und Arterhaltungstrieb beim Menschen im Unterschied zum Tier im Stammhirn getrennt sind. Die Fähigkeit der Fremdwahrnehmung, der Zuwendung zu den Sachen und zu anderen Wesen muss daher im Stammhirn lokalisiert werden. Sitz der Aufmerksamkeit ist also nicht, wie man früher annahm, das limbische System, das auf Zuckerbrot und Peitsche — Wiederholung von Lust, Vermeidung von Schmerz — reagiert. Bedeutsame Schlussfolgerungen für die Pädagogik hat hier Marcel Müller-Wieland gezogen: Ein Kind braucht bei richtiger Erziehung, also Erziehung, die im Stammhirn ansetzt, nicht Lohn und Strafe. Es ist der Aufmerksamkeit, der Zuwendung zu Mitmensch und Mitwelt fähig, sobald man der Erziehung der körperlichen Erfahrung Priorität gibt. Das Stammhirn ist nämlich als stammesgeschichtlich ältester Hirnteil nur über den Körper zugänglich.

Im Bemühen um ein kreatives, sinnvolles Leben gilt es daher, die drei Bereiche — Stammhirn, limbisches System, Neocortex — zu trennen und bewusst als verschiedene Personen eines Menschen zu betrachten. Dazu tritt auch noch das Wechselspiel des Gegensatzes von linker, digitaler Großhirnhemisphäre (Wachen/Zeit) und rechter, analoger Hemisphäre (Traum/Raum). Traum ist ebenso wirklich wie Wachen. Er offenbart, wie die Tiefenpsychologie gezeigt hat, die Ursprünge der Motivation, deren Erkenntnis oft über Sinn oder Sinnlosigkeit eines Daseins entscheidet.

Beim Tier sind männliche und weibliche Rollen geschieden, aber aus dem arteigenen Ritual getragen. Beim Menschen dagegen trennt die Sprache Traum und Wirklichkeit, und vereint sie in der Gestaltung der Zivilisation, die Mann und Frau bestimmte Rollen zuteilte. Auch hier kann uns die Religionsphilosophie eine Klärung des biologischen Zusammenhangs vermitteln.

Ein wesentliches Kriterium des Christentums war die Dreieinigkeit: Gott wurde als drei Personen, aber eine Substanz, ein Wesen bestimmt. Die verschiedene Interpretation der drei Personen hat historisch zur Spaltung zwischen den Bekenntnissen geführt. So lässt die orthodoxe Kirche die Gnade nur aus dem Vater erfließen; die katholische aber aus Vater und Sohn, heutigen Historikern ist die frühmittelalterliche Schärfe der Auseinandersetzung oft unverständlich. Doch der Schlüssel liegt auf der Hand und wurde erstmals von Meister Eckhart dargestellt. Der Mensch ist nach Aussage der Bibel im Bilde Gottes geschaffen. Wenn also Gott dreieinig ist, muss es auch der Mensch sein. Körper, Seele und Geist entsprechen nun den drei Gehirnschichten und müssen als verschiedene Formen (Personen) gewahrt werden, um als Wesen und damit gottgleich — sprich: kreativ wirken zu können.

G e h i r n z o n e nStammhirn: Körper
Wurde die Rückbindung zu den Trieben, wurde überhaupt die Körperlichkeit von der christlichen Erziehung noch verneint, so ist heute durch die Körpertherapiebewegung in der Nachfolge Wilhelm Reichs, aber auch durch Kenntnis der indischen und chinesischen Traditionen (Yoga, Chi Gong u. a.) die Entdeckung und Bestimmung der Eigenheit des Körperlichen geklärt worden.

Die Motive werden nicht zugänglich, wenn ich nicht ihre Existenz akzeptiere, und wenn ich darüber hinaus nicht das Grundvertrauen erreiche, dass ihre Ordnung — so wie alles andere — im Großen Ganzen verwurzelt und von einer freundlichen Macht getragen ist.

Limbisches System: Seele
Wird mein Körper mein Freund, dann kann ich meine seelischen Beziehungen klären, deren größte Gefahr ja die Abhängigkeit von den Eltern oder Vorgesetzten ist: die Lösung der Übertragung ist die Voraussetzung persönlicher Sinnfindung.

Neocortex: Geist
Diese Sinnfindung aber verlangt Aktivierung des dritten menschlichen Hirnsystems in bewusster Unterscheidung zur Säugernatur des limbischen Systems und des Reptilhirns. Sinn ist nicht vorgegeben. Er wird vom Menschen geschaffen durch Vereinigung von Wirklichkeit und Möglichkeit, Wachen und Traum, Entropie und Negentropie

Vision ist jedermann zugänglich, nicht nur Künstlern. Unzählige Methoden der humanistischen und transpersonalen Psychologie haben gezeigt, wie jeder Mensch die Visionsfähigkeit und damit den Zugang zu seiner Kreativität finden kann. Oft ist dieser Zugang durch negative Erfahrungen in der Jugend verstellt. Hier können manchmal Psychologen helfen. Viel gravierender aber ist, dass die offizielle Pädagogik seit den sechziger Jahren in den Händen der zitierten Aufklärer ist, die infolge ihrer Körperfremdheit den Zugang zur eigenen Kreativität beinahe weltanschaulich verhindern. Denn was soll ein Wissen, welches nicht mit der Wirklichkeit des Körpers übereinstimmt? Was soll eine Zukunftsvision, die notwendig in die Zerstörung, nicht in die Dreieinigung des Menschen führt?

Die wissenschaftliche Weltauffassung erkennt nur das verifizierbare und wiederholbare Experiment und die heuristische Theorienbildung als Kriterium an. Der große Zusammenhang gilt als unwissenschaftlich und wird entweder der Kirche überlassen oder zum Bereich der persönlichen Spekulation gerechnet.

Doch gerade hier hat in der sogenannten Neuen Physik eine Umkehr eingesetzt, welche die Rückkehr des Selbstverständlichen bedeutet. Allgemein bekannt wurde diese Wandlung durch Fritjof Capras Tao der Physik. Doch der entscheidende Schlüsselgedanke der Wandlung des Weltbildes wurde von Erich Jantsch in: Die Selbstorganisation des Universums und Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela in: Der Baum der Erkenntnis geprägt.

Arnold Keyserling
Rückkehr des Selbstverständlichen · 1984
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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