Schule des Rades

Árpád Romándy

Transparenz im Alltag

Schaffe höchste Leere!
Wahre völlige Stille!
Die zehntausend Dinge erheben sich zugleich.
Ich schaue, wie sie sich wenden.
Die Dinge in all ihrer Menge,
ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.
Rückkehr zur Wurzel heißt Stille.
Stille heißt Wiedererlangung des Lebens.
Wiedererlangung des Lebens heißt Dauer.
Erkenntnis der Dauer heißt Erleuchtung.
Erkennt man die Dauer nicht,
so leidet man vergebens.
Erkennt man die Dauer,
so wird man aufnehmend.
Aufnehmen führt zu Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit heißt König.
König heißt Himmel.
Himmel heißt Dao.
Dao heißt langes Leben.
Das Leben lang kommt man nicht in Gefahr.

(Laozi 16)

Im philosophischen Denken Chinas wurde zu allen Zeiten immer wieder ein Bereich zu erkennen und erfahren gesucht, der als Ursprung und Ziel gleichzeitig galt. Die Daoisten bezeichnen ihn als Dao, auch als Nichts, als Urchaos, und die Spannung zwischen Nichts und Etwas liegt der Philosophie des Daoismus zugrunde, die Buddhisten bezeichnen ihn als Leere und suchen die Beziehung zwischen Leere und Form zu verstehen, Kongzi nennt ihn Himmel (Himmel, Erde und Mensch, das ist die große Triade des chinesischen Universismus), in der Synthese des Neokonfu­zia­nismus wird von Wuji und Taiji bzw. von Li, dem Urprinzip hinter allem Wandel gesprochen, und die Alchemisten verstehen ursprüngliche Essenz, ursprüngliches Qi und ursprünglichen Geist erst als eigentliche Wirklichkeit.

Wie im oben zitierten Spruch Laozis: alle Dinge erheben sich, und zwar aus dem Nichts, aus der Leere, und kehren wieder zurück zu ihrer Wurzel, zum Dao, zum uranfänglichen Einen. Dies ist bei allen Unterschieden des Denkens gemeinsames Ziel und gemeinsame Erfahrung all derer, die den Sinn des Lebens und den Ursprung von Kultur und Natur zu ergründen suchen.

Wenn im Westen heutzutage abgesehen von der geistes­wissen­schaft­lichen Rezeption von Inhalten auch die praktische Beschäftigung mit Methoden der chinesischen Kultur immer mehr populär wird, ist es notwendig, sich daran zu orientieren. Das chinesische Denken unterscheidet sich in vielem radikal von der westlichen Weltsicht und nur die Bewusstmachung der grundlegenden Inhalte und deren mögliche Komplementarität zum westlichen Denken kann zu einer fruchtbringenden Integration auch der praktischen Methoden führen.

Gemeinhin besteht die Tendenz, Methoden wie das Qigong einfach in ihrer ursprünglichen Ausformung zu übernehmen und sie entweder als mehr oder weniger exotischen Inhalt dem westlichen Alltag hinzuzufügen oder darin eine Möglichkeit zu sehen, sich geistig im Rahmen östlicher Philosophie und Religion zu entwickeln. Beides sind natürlich legitime Vorgangsweisen, gehen meines Erachtens aber am Wesentlichen vorbei.

Die direkte Übernahme chinesischer Übungswege, ohne nach ihrer möglichen Bedeutung und ihrem zugrunde liegenden Sinn zu fragen, führt zu dem, was ohnehin schon Alltag geworden ist und immer mehr um sich greift: eine Methodik, die ursprünglich zum Finden einer Antwort auf die Frage menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten gedacht war, wird im Sinne der Ideale der modernen Leistungsgesellschaft instrumentalisiert. Gesundheit, Harmonie, Energie, Konzen­trations­fähigkeit, Heilung, all dies sind Schlagworte, die mit der zunehmenden Verbreitung dieser Methoden verbunden sind und denen eines gemein ist: es wird nicht von einem Subjekt ausgegangen, das einen möglichen Sinn zu verwirklichen sucht, sondern der Mensch wird als Objekt solcher Methodik begriffen, der dadurch, was immer er tut, besser, ausdauernder und effektiver zu tun imstande ist. Mit anderen Worten, die Sinnfrage wird ausgeklammert und nur die bestmögliche Bewährung in einer vorgegebenen Gesellschaft zu erfüllen gesucht. Nicht dass die Nutzung des gesundheitlichen Potentials von Qigong-Übungen in Frage zu stellen wäre, das, worauf diese Übungen aber letztlich abzielen, ist der Wer, der sich mit ihnen befasst und nicht das Was, das aus ihnen entsteht.

Sich chinesischen Techniken zuzuwenden auf der Suche nach einem etwaigen Sinn, der durch die kontinuierliche Übung geschaffen wird, geht klarerweise über die Frage nach dem gesundheitlichen Nutzen hinaus, birgt jedoch ebenfalls Gefahren. Ohne Wissen um das ursprüngliche Ziel und die Bedeutung dieser Methoden und um deren Einbindung in ein komplexes System uns fremder kultureller Normen und Glaubenssätze ist es schwer, die Grundprinzipien herauszuarbeiten, durch die diese Techniken für eine globale Kultur der Zukunft fruchtbar werden können. Den vorformulierten und vorgefügten Sinn im Rahmen einer Philosophie oder eines Glaubens östlichen Ursprungs, zu suchen, führt meist wohl nur zu einer Verlagerung des Schwerpunktes im horizontalen, aber wohl kaum zu einer Öffnung im vertikalen Sinn. Dass es dieser bedarf, wird von vielen erkannt und gefühlt, in einer Zeit der globalen rationalen Kultur können traditionelle Wege aber wohl nicht mehr von vielen Menschen begangen werden.

In diesem Sinne ist es wohl richtig, die alten chinesischen Methoden und Praktiken einer Neubewertung im Sinne des modernen, rationalen und naturwissenschaftlichen Denkens zu unterwerfen. Gerade die modernen Systemwissenschaften haben gezeigt, dass ein vernetztes Denken, wie es schon immer für China kennzeichnend war, die Einseitigkeiten der westlichen Sicht zu vermeiden helfen kann. Mit solch einem Denken an Inhalte des Qigong heranzugehen, mag vieles, was in einer etwas vage und archaisch anmutenden Sprache formuliert ist, in einem klareren Licht erscheinen lassen. Qigong ist nicht antirational, es wird nur eine Terminologie verwendet, die, einem völlig fremden kulturellen Umfeld entstammend, nicht so ohne weiteres nachvollziehbar ist. Andererseits ist dieses kulturelle Umfeld sehr wohl auch geprägt von animistischen, magischen und mythischen Denkweisen, und sich dieser bewusst zu werden bzw. sich dieser zu entledigen, ist wohl Bedingung für eine weiterführende Integration des Qigong in den westlichen Alltag. Gerade der in China immer noch äußerst populäre religiöse Daoismus hat vieles im Qigong geprägt, was sehr leicht zu Missverständnissen führt, da es sich hierbei nicht um den esoterischen Hintergrund und die geheimen Praktiken des Qigong handelt, sondern schlicht um religiöse Inhalte, die Teil des Glaubens des chinesischen Volkes waren und sind, die aber nicht notwendig sind für eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Qigong, sondern vielmehr die eigentlich wesentlichen Inhalte verdecken.

Im Grunde genommen wurde schon früh in China der entsprechende Schritt unternommen, als beginnend mit Kongzi die Rationalität und die Orientierung auf menschliche Themen als Grundlage der Gesellschaft gesehen wurden und andere Themen zwar nicht ausgeschlossen, aber doch mit einer gewissen Distanz betrachtet wurden. Und auch in einem nicht-kommunistischen modernen China müsste heute wohl wieder dasselbe getan werden, was für die letzten Jahrzehnte des Qigong kennzeichnend war: die alten Traditionen aus ihrem Kontext lösen und wissenschaftlicher Forschung zugänglich machen, mit dem Schwerpunkt auf dem möglichen physischen und psychischen gesundheitlichen Nutzen. Die zunehmende Bereitschaft im Westen, sich mit Qigong auseinanderzusetzen und nach dessen Wirkmechanismen zu fragen, ist sicherlich teilweise auf diese neue Art, altes Wissen zu betrachten, zurückzuführen. Zwar wird in diesem Zusammenhang oft mit einem übertriebenen Reduktionismus gearbeitet, trotzdem führt das wissenschaftliche Denken in hohem Ausmaß zu einer Klärung der Methodik und Wirkweisen. Allerdings braucht es jenseits der Wissenschaft noch einen weiteren Schritt, um dem Qigong in seiner Essenz gerecht zu werden.

Egal ob deduktiv-analytisches oder induktiv-synthetisches Denken, egal ob in Kausalbeziehungen oder vernetzt gedacht wird, all dies bezieht den Menschen als Subjekt nicht ein. Qigong wird heute als gesundheitsfördernde Übungsmethodik, die mit mentalen Impulsen arbeitet, definiert und wissenschaftlich untersucht, dies reicht aber nicht, um den Menschen in allen Dimensionen zu erfassen. Allein schon die Frage nach dem Bewusstsein des Menschen und dessen verschiedenen Entwicklungsebenen führt durch die Hintertür eine Fragestellung ein, die wir oben ausgeklammert haben, nämlich die nach dem Sinn. Wird die mögliche Entwicklung des Menschen vorausgesetzt, körperlich, seelisch, geistig, ist die Sinnfrage nicht mehr zu übergehen. Den Sinn im Rahmen einer bestehenden Religion zu finden, mag wie gesagt möglich sein, entspricht im Zeitalter der Globalisierung und des rationalen Denkens aber nicht mehr der Höhe der Zeit. Heutzutage ist es vielmehr notwendig, nach grundlegenden, einfachen Prinzipien der inneren Erfahrung zu suchen, die, da sie sich auf die höchstmögliche innere Erfahrung des Menschen beziehen, kulturübergreifend sind und deshalb jenseits von Religionen und Philosophien eine möglichst hohe Möglichkeit der Integration besitzen.

In dieser Hinsicht sind Nichts und Etwas, Leere und Fülle, Wuji und Taiji grundlegende Begriffe (nicht nur theoretische, sondern auch Erfahrungsbegriffe) für ein Verständnis des Menschen, das sich nicht auf ein traditionelles Bild im Rahmen einer Religion oder Ideologie beschränkt. Es ist das Nichts und nicht das Etwas, das den Raum zur Integration schafft. Geistige Inhalte verstellen diesen Raum, darum ist es notwendig, sich dieser immer wieder zu entledigen und sich auf diesen Raum (die Stille, die innere Leere) zu besinnen. Methodisch bedeutet dies im Qigong die Verminderung der Gedankentätigkeit und Assoziationen. Der Mensch in seinem Innersten ist Leere. Diese Leere ist aber nicht nur Raum und Hintergrund für Integration und Entwicklung, sondern eigentlich deren Ursprung. Die Leere ist zeugend, Potentialität im Übergang zur Aktualität. Durch Rückbesinnung auf die Leere ist es nicht nur möglich, Identifikationen und Stagnationen aufzulösen, sondern wird Teilhabe möglich an der Kreativität des Universums. (Nicht umsonst sind es gerade die Philosophien des Daoismus und des Zen, die die Kunst Chinas und Japans in so hohem Ausmaß beeinflusst haben.)

Durch Verständnis der Leere kann dem Einzelnen ermöglicht werden, seine Möglichkeiten zu verwirklichen, ohne sich einem vorformulierten Rahmen einzufügen. Wird die Leere als Ziel verstanden, führt dies zu einem kontemplativen und mystischen Weg, wird sie aber in ihrer zeugenden Potenz aufgefasst, also als innere Anlage und Disposition zur Ganzheit, sind Kontemplation und Mystik nicht unabdingbar, vielmehr kann der — ursprünglich konfuzianische — Auftrag des Himmels in den Vordergrund treten, die Vorstellung also, dass durch Richtigstellung der Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie (auf den Menschen bezogen also leeres Zentrum, aus dem heraus gehandelt wird) der Einklang mit dem Dao erreicht wird und der Mensch seinen Beitrag zur Welt zu leisten imstande ist. Im Zhongyong, dem Klassiker von Maß und Mitte, heißt es: Der Auftrag des Himmels, das ist das Wesen. In diesem Sinn ist die Leere Bedingung der Ganzwerdung, der Versuch, in der Enthaltung von Bewusstseinsinhalten die Ganzheit der Anlage spürbar werden zu lassen.

Das Ideal im alten China war die Einfügung in die vorgegebene Gesellschaft, heutzutage, mit der neu zu stellenden Frage nach dem Sinn, braucht es jedoch den Schritt über den Konformismus hinaus, um die Fülle der Möglichkeiten zu verwirklichen. Dies wird durch das Einbeziehen des Körpers möglich. Der Körper denkt nicht logisch und analytisch, sondern spiegelt die jeweilige Integration des Wesens und macht im Qigong die Dynamik des leeren Zentrums verständlich. Alle Qigong-Methoden zielen darauf ab, den Ursprung der Energien erlebbar zu machen. Das ursprüngliche Qi entspringt der inneren Leere und ein Handeln, das diese zur Grundlage hat — Wuwei im Chinesischen, Nicht-Tun — stimmt sich auf diesen Energiefluss ein.

Die große Gefahr im chinesischen Denken ist der Stillstand, exemplarisch ausgedrückt im zwölften Hexagramm des Yijing, der Stockung, wo die Energien von Yin und Yang außer Beziehung sind — dieser Stillstand, den jeder in vielerlei Aspekten aus dem Alltag kennt, muss immer wieder durch Bewusstmachung des Ursprungs der Energien überwunden werden. Dies hat gesundheitlich positive Wirkungen, basiert doch die gesamte chinesische Medizin auf dem Wissen um den inneren Energiefluss und dessen regulative Auswirkungen auf den Organismus, kann jedoch sicher auch in einem viel weiteren Rahmen gesehen werden.

Der Sinnzusammenhang des Universums wird im Chinesischen als Dao bezeichnet. Sein Leben auf das Dao abzustimmen, also prinzipiell von einem möglichen Sinn auszugehen und diesen auch im Zufall als Fügung zu erkennen, ist der entscheidende geistige Schritt, der jenseits von Glaubenshaltungen und Religionen über den Stillstand hinweghilft und die vertikale Öffnung ermöglichen kann. Das bürgerliche Weltbild akzeptiert dies nicht, die Vorstellung von sinnvollen Zufällen ist ihm fremd. Religionen wiederum gehen zwar vom Sinn aus, aber in einer historischen und mythischen Formulierung, und verlangen Gefolgschaft. Akzeptiere ich jedoch den Sinn und verstehe ich die innere Leere als Vorbedingung der Fülle, kann ich die existenzielle Dimension ernst nehmen und das Leben als Abfolge von Schritten und Geschehnissen sehen, die immer im Einklang mit dem Dao stehen. Darum heißt es in Maß und Mitte: Das Dao kann keinen Augenblick verlassen werden. Was verlassen werden kann, ist nicht das Dao.

In diesem Sinn können wir theoretisch und inzwischen auch, wie im Qigong, praktisch viel von China lernen. Konfuzius weigerte sich, Fragen jenseits der menschlichen Sphäre zu beantworten, ich denke, aus dem Gefühl für die Tiefe der inneren Dimensionen, der rationale Erklärungen nicht gerecht werden können. Dafür führte er als erster den Menschen als Lernenden ein, der durch sein Lernen seinen inneren Auftrag Ming — den Auftrag des Himmels — zu verstehen und erfüllen suchte, wobei das Dao, der Sinn, für ihn selbstverständlicher, numinoser Hintergrund des menschlichen Handelns war. Und der Daoismus lehrt uns, dass wir bei aller Rationalität unser Innerstes als Geheimnis anerkennen müssen, das nicht durch falsche Identifikationen verstellt werden darf. Gerade die praktische Übung des Qigong weckt die Sensibilität für den Bereich, der, richtig verstanden, auch die Quelle unserer Kreativität und vielfältigen Beziehungen zur Welt ist. Die rechte Aufmerksamkeit, auf die man sich im Qigong einzustimmen versucht, hilft vielleicht, die Offenheit der Welt gegenüber nicht zu vergessen und jenseits der Überlebens­ziele immer wieder Durchlässigkeit und Transparenz zu erreichen.

Árpád Romándy
Transparenz im Alltag · 2005
© 1998- Schule des Rades
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