Schule des Rades

Dago Vlasits

Wissenschaft vom Ursprung ist der Ursprung von Wissenschaft

Vor Thales

Seit es Menschen gibt, fragen sie nach Ursprung, Ordnung und Sinn ihrer Welt. Doch die spezielle Art des wissenschaftlichen Herangehens an diese Frage hat ihre Wurzeln bei Thales und den anderen Vorsokratikern. Hier begann die Anjochung des Denkens, die Suche nach dem klaren Begriff, welcher die mythischen Bilder vom Ursprung und Urgrund ersetzen könnte. Dabei sollte der Begriff tatsächlich etwas Begreifbares bezeichnen, also sinnlich erfahrbar sein oder zumindest die Sinneswelt erklären.

Was aber die Durchführung methodischer Beobachtungen betrifft, waren die alten Griechen nicht die ersten. Sie waren Erben der Reste einer viel älteren Wissenschaft, deren Spuren auf die frühen Hochkulturen des Nahen Ostens verweisen und deren Anfänge wahrscheinlich im Spät-Neolithikum zu finden sind. Überliefert sind uns die Überreste dieser archaischen Empirie allesamt in Form der Mythen, den ältesten Antworten auf die Frage nach der Ursache allen Geschehens. Unendlich vielfältig erscheinen dabei ihre Erklärungen der Weltentstehung, ihre Sinngebung menschlichen Daseins und das Wirken göttlicher Wesen. Was sich heute als Mythos darbietet, ist ein Sammelsurium unterschiedlicher Geschichten, welche aber auf Grund der Erosion der Zeit und Ablagerungen der Phantasie ihre wahre Beschaffenheit mehr verbergen als enthüllen. An der disparaten Fülle dieser teils bizarr anmutenden Bilder mag ein Rationalist leicht verzweifeln und sie als naives Gestammel des erst erwachenden menschlichen Geistes abtun. Doch auch eine wohlmeinendere Beurteilung, die sie als geistreiche Konstruktionen in einer an wahrer Erkenntnis armen Zeit anerkennt, ja selbst die tiefergehende psychologische Deutung der Mythen als eigenmächtige Gestaltungen des kollektiven Unbewussten wird ihrer eigentlichen Natur nicht gerecht.

Die moderne Mythenforschung hat hinter der üppigen Bilderwelt empirische Fakten, gleichsam einen harten Kern entdeckt. Gemäß dieser Auffassung sind die Mythen nicht einer jungfräulichen Phantasie entsprungen, sondern resultieren aus der exakten Beobachtung des Himmels und der dafür notwendigen Mathematik. Die archaischen Forscher drückten aber ihre Beobachtungen und Erkenntnisse auf mythisch aus, während heutige Wissenschaft durch einen formalistischen Sprachgebrauch gekennzeichnet ist. Werner Papke konnte zeigen, wie im ältesten literarischen Werk der Menschheit — dem babylonischen Epos von Gilgamesch und Enkidu — die Abenteuer und Stationen der Helden allesamt Bewegungen und Konstellationen der Planeten und des Sternenhimmels abbilden. Aber vor allem Giorgio de Santillana und Hertha von Dechend haben für diese Art der Mythenforschung Bahnbrechendes geleistet. Unter ihren Augen verwandelt sich die wuchernde Sprache des Mythos gleichsam in eine internationale Fachsprache der Astronomie, welche über Kontinente und Jahrtausende hinweg gesprochen wurde. Als fundamentales Thema der Himmelsbewegungen und der Mythen erkannten sie die Präzession, die Wanderung der Erdachse um die Ekliptik, das 26.000jährige Weltenjahr mit seinen einschneidenden Umwälzungen. Neben den kürzeren Planetenrhythmen scheint der größte kosmische Rhythmus den Stoff für die Mythen aller Kulturen zu liefern, oft nur mehr bruchstückhaft vorhanden, doch immer als Variation des einen Themas erkennbar. Diese Verschiebung des Frühlingspunktes steht überall mit einer Heldengestalt in Beziehung, so etwa Kai Chosrau in der persischen, Prometheus in der griechischen oder Amlodhi, der Besitzer einer sagenhaften Mühle, welche den um den Polarstern kreisenden Himmel repräsentiert, in der altnordischen Überlieferung. Von letzterem ist noch in Shakespeares Hamlet ein spätes Echo vernehmbar.

Wie bei jeder menschlichen Rede ist auch beim Mythos zwischen Sinn und Bedeutung zu unterscheiden, hier der mathematisch-astronomische Gehalt einerseits und die Dramatisierung der geometrischen Beziehungen und Vorgänge andererseits. Das dramatische Moment ist aber mehr als bloß der spezifische Tonfall eines archaischen Fachjargons oder ein didaktisches Mittel zum besseren Memorieren von astronomischen Daten. Alle dramatischen Gestaltungen bringen die Bedeutungen zum Ausdruck, welche die Bewegungen der Himmelslichter nach Ansicht unserer Ahnen für die Menschen haben. So wurde die durch die Präzession bedingte Verschiebung des Frühlingspunktes — wobei des öfteren der jeweilige Polarstern als Orientierung verlorengeht — als Zerstörung der Weltachse und somit ganz allgemein als Weltuntergang und Götterdämmerung interpretiert. Woher kommen aber diese Bedeutungen, was veranlasste die archaischen Astronomen dazu, die kaum wahrnehmbaren Veränderungen des Himmels in so drastische Metaphern zu packen, die mit dem Anspruch auftraten, etwas über das Geschehen unten auf der Erde auszusagen?

Der Umstand, dass es sich bei der archaischen Astronomie um eine kontinuierliche Weitergabe von Beobachtungen und Erfahrungen über Jahrtausende handelt, erlaubt die Annahme, dass die Deutungen astronomischer Daten nicht bloß einer visionären Schau entsprungen sind, sondern dem Vergleich vergangener und aktueller Beobachtungen. Sinnvolle Koinzidenzen zwischen Himmelserscheinungen und irdischen Ereignissen herzustellen ist aber für den modernen Menschen reiner Aberglaube, zumal wenn die Beobachtungen auch noch vom längst als falsch erkannten geozentrischen Blickwinkel gemacht werden. Hier ergeben sich ja scheinbare Bewegungen und Rückläufigkeit der Planeten. Dass Bewegungen am Himmel eine Bedeutung für den Menschen haben sollen, ist schlimm genug. Dass dies aber auch für scheinbare Bewegungen gelten soll, ist für viele Zeitgenossen auf Grund der gängigen wissenschaftlichen Vorurteile inakzeptabel. Tatsächlich lässt sich aus einem phänomenologischen Ansatz heraus die wirklichkeitsschaffende Rolle der himmlischen Lichter und die Berechtigung des geozentrischen Standpunktes erkennen.

Hier wollen wir aber nur kurz auf die Gegenwart als möglichen Prüfstein verweisen. Heute besteht für uns die seltene Gelegenheit, Zeugen einer Großen Wende am Himmel zu sein, dem Übergang des Frühlingspunktes vom Zeichen der Fische in das Zeichen des Wassermanns. Mythisch bedeutet es einen Weltuntergang und den Sturz der alten Götter, deren Macht sich ins Titanische verkehrt hat. Wie alle 2.160 Jahre besteht also die Notwendigkeit, einen neuen Himmel und eine neue Erde zu schaffen, was erst einmal nichts anderes heißt, als die Erde in einem neuen himmlischen Koordinatennetz zu orientieren. Gerüstet mit der notwendigen Kenntnis astraler Symbolik eröffnen sich dann daraus ein neuer Sinn und neue Bedeutungen für die Menschheit. Natürlich bleibt es jedem unbenommen, die globalen Umwälzungen, welche sich heute auf unserem Planeten vollziehen, den Niedergang der Ideologien und die Suche nach neuen Ordnungsstrukturen nicht mit dem erwähnten astronomischen Ereignis in Beziehung zu setzen.

Dago Vlasits
Wissenschaft vom Ursprung ist der Ursprung von Wissenschaft · 1994
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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