Schule des Rades

Dago Vlasits

Wissenschaft und Weisheit

Das Subjekt in den drei Welten

Eine Singularität ist in der Allg. Relativitätstheorie ein Zustand, bei welchem die Werte eines physikalischen Systems unendlich werden, unendliche Dichte, unendliche Temperatur, unendliche Energie. So wird etwa ein bis zur Ausdehnungslosigkeit geschrumpfter Stern, also ein schwarzes Loch, oder der Nullpunkt vor dem Urknall als singulär bezeichnet. Mit unendlichen Werten kann aber die Physik nicht operieren, hier versagt ihr mathematischer Formalismus. Hier ist kein Gesetz mehr zu erkennen, denn unendliche Werte sind wie gar keine Werte, ein Nichts. Erst ab 10-32 cm und 10-42 sec, dem Planckschen Quantum von Raum und Zeit, gibt es Physik, allerdings nur theoretische, denn der wissenschaftlichen Experimentierkunst ist diese Größenordnung nicht zugänglich.

In der Chaostheorie ist die Singularität ein Punkt der Entscheidung, mit der Spontaneität einer auf einem spitzen Kegel balancierenden Kugel. Sie hat unendlich viele Richtungen, in die sie fallen kann, wobei die Wahl absolut nicht voraussehbar ist. Vor allem gibt es keinen linearen und kontinuierlichen Übergang vom Zustand vor in den Zustand nach der Wahl. Es handelt sich um einen Sprung, das Neue ist nicht linear aus dem Alten abzuleiten. Das einfachste Bild der Singularität als Entscheidungspunkt ist die Bifurkation, die Gabelung. Ob die linke oder rechte Richtung der Gabel bei einem Prozess gewählt wird, entscheidet sich am Verzweigungspunkt, und dieser ist uneinsehbar.

In der Quantentheorie ist von Singularitäten nicht die Rede, aber die Quantenwelt ist durch eine grundsätzliche Spontaneität gekennzeichnet. Das Wirkungsquant ist die erste meßbare Größe in Raum und Zeit, doch es ist spontan in seiner Entscheidung, sich an einem bestimmten Ort zu aktualisieren oder nicht.

Wir wollen die drei Theorien in Hinblick auf die Bedeutung betrachten, die sie neben ihrem Status als spezielles Expertenwissen besonders begabter und ausgebildeter Wissenschaftler nun auch für jeden Weisheitssucher haben könnten. Die Allg. Relativitätstheorie beschreibt im wesentlichen die Verhältnisse des Makrokosmos, die Chaostheorie die des Mesokosmos und die Quantentheorie den Mikrokosmos. Vom Standpunkt der Weisheit aus definieren die drei Theorien die 3 Welten des Subjekts, wie sie auch in den verschiedenen Weisheitstraditionen bekannt sind. Chinesisch Himmel, Erde und Mensch, alchimistisch Oberwelt, Unterwelt und Zwischenwelt. In allen dreien ist Hermes Trismegistos, der Dreimalgroße zu Hause. Er ist Gott und Schutzherr der Alchimie, das Urbild des magisch wirkenden Menschen. Er ist das Vierte, welches die drei Welten durchdringt, in ihm werden Materie, Leben und Bewusstsein zum Wesen geeint. Durch die Vereinigung von oben und unten, Licht und Kraft, den Bildern des Himmels und der Kraft der Erde erschafft der Mensch den Wortleib des Wesen. Es ist die Magie der Selbstorganisation.

Was haben nun nüchterne naturwissenschaftliche Theorien mit einem derartigen Menschenbild zu tun? Die drei besagten Theorien sind deshalb so hervorragend und für die Suche nach Weisheit relevant, da alle drei das spontane Subjekt wieder in seine Rechte setzen, in allen dreien taucht die dem Rationalen nicht mehr zugängliche Singularität auf. In der Quantentheorie das nicht mehr objektivierbare Wirkungsquant, in der Chaostheorie die unvorhersehbare Entscheidung im Bilde der Bifurkation und in der Relativitätstheorie die absolute Krümmung des Raumzeitkontinuums zum schwarzen Loch bzw. zum Urknall. Außerdem liefern sie kritisch zugängliche Anfangsgründe für alte Weisheitslehren, die wegen mangelnder naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bislang als Scharlatanerie verkannt, aber teilweise auch tatsächlich dazu verkommen sind.

Mag es dem wissenschaftlich Geschulten auch befremdlich erscheinen, die ausschlaggebende Bedeutung der Relativität des Ortes und Bewegszustandes eines Akteurs im einsteinschen Raumzeitkontinuum legitimiert letztlich den geozentrischen Standpunkt der Astrologie. Denn dass der subjektive Ort und Bewegungszustand die Qualität der erlebten Wirklichkeit bedingt, ist als physikalischer Erweis zu werten, dass der phänomenologische Ansatz — welcher auch einer richtig verstanden Astrologie zugrunde liegt — letztlich Gültigkeit beanspruchen darf. Unter Phänomenologie sei jener Ansatz verstanden, welcher nicht Objekte, sondern das Subjekt an seinem besonderen Ort und die sich ihm einbildenden Erscheinungen als Anfangsgrund nimmt. Von dem Umstand, dass Einstein das All im Großen als Geometrie erkannte, führt zudem ein langer aber direkter Weg zu der Einsicht, dass das Himmelsrund der Ursprung aller Geometrie ist, dass alle Bilder und alle Vorstellungstätigkeit, also die geometrische Intuition des Menschen letztlich dem Licht der Nacht entspringt. Das einfachste Element der geometrischen Anschauung ist nicht das formale Nichts eines Punktes, sondern der strahlende Stern in der Ebene der Nacht.

Ebenso lässt sich von der Quantentheorie eine Brücke zu einem alten Themenkomplex schlagen, nämlich zu jenen Traditionen, welche um das Konzept des menschlichen Energieleibes kreisen. Dessen Substanz ist das alldurchdringende Chi der Chinesen. Alle 4 physikalischen Grundkräfte sind Ableitungen dieser Urkraft, sie selbst ist aber weder dem mathematischen noch dem technischen Apparat der Wissenschaft zugänglich, sondern nur der Entscheidung des Subjekts. Wo ist nun der Ort des Subjekts in der Quantenwelt? In der Unbestimmtheit des Wirkungsquants. Die Quantentheorie entwirft eine Welt, in welcher Energie oder Materie vor der entscheidenden Beobachtung nur in Form von Wahrscheinlichkeiten existiert. Erst in dieser Wahl wird eine der potentiellen Welten zur aktualen Welt. Nun wird seitens der Physiker die Quantenebene als irrelevant für die Größenordnung des Menschen angesehen, also für die Welt, in welcher er in Häusern wohnt und mit Autos fährt, denn die Unbestimmtheit des einzelnen Quantums, das ganz Kleine gilt gemeinhin als Domäne des blinden Zufalls. Was wäre, wenn aber nun der Mensch tatsächlich einen bewussten Zugang zu dieser Ebene hätte? Dann müssten uns auch die wundergleichen Kraftakte großer Chi Gong-Meister nicht gar so in ungläubiges Staunen versetzen. Ist das Gewahrsein des Menschen in der Unbestimmtheit des Augenblicks verankert, ist ihm das Wirkungspotential jenseits von Masse und Energie zugänglich, und Chi wäre die zum Kontinuum geschmiedete Kette von Entscheidungen, welche die punktartigen Quantenpotentiale als homogene, reale Gestalten erscheinen lässt. Chi wäre ganz allgemein als jenes Feld zu verstehen, welches die Aktualisierung des Quantenpotentials als reale Masse und Energie steuert. Dieser Prozess ist wunderbar und alltäglich zugleich. Er ist alltäglich insofern, als alle Wesen ihre körperliche Welt auf diese Weise von Augenblick zu Augenblick erschaffen, doch ihre Wahl fällt zumeist auf die wahrscheinlichste aller Welten. Meisterung des Chi aber besteht in der Überwindung dieser Trägheit und in der gewollten Aktualisierung auch wenig wahrscheinlicher Quantenpotentiale.

Der Makrokosmos der Relativitätstheorie ist die Welt der Ewigkeit. Bei Lichtgeschwindigkeit ist alles diskontinuierliche Geschehen zu einem homogenen Sein verschmolzen, die dreifältige Unterscheidung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist aufgehoben und das All als räumlich-ruhendes Bild gegeben. Das Licht ist überall gleichzeitig, bedarf keiner Zeit, um räumliche Distanzen zu überwinden. Bei Geschwindigkeiten unterhalb des Lichts wird jedoch das Kontinuum solcherart verzerrt, sodass sich zeitartige Erfahrungen und Szenarien ergeben, wie etwa der besondere Himmel aus der besonderen Perspektive und dem besonderen Bewegungszustand unserer Erde.

Der Mikrokosmos der Quantentheorie aber ist die Welt des Augenblicks. Die Wirklichkeit ist in der Relativitätstheorie räumlich-objektiv gegeben, der Beobachter beeinflusst die Realität nicht, sie ist durch seinen Bewegungszustand bloß perspektivisch verzerrt. Während also in der Relativitätstheorie der Raum zur Zeit wird, also das räumliche Sein der Lichtgeschwindigkeit durch Verlangsamung zur Zeiterfahrung wird, etwa als die Entfernung oder Umlaufszeit eines Planeten, wird in der Quantentheorie die Zeit zum Raum. In der Hochenergiephysik ist seit langem auch experimentell erwiesen, dass der quasi leere Raum, das Vakuum spontan aus sich selbst Teilchen gebiert. Doch die Potentialität der Quanten ist nicht räumlich gegeben, sondern existiert in der Zeit des Augenblicks als Möglichkeit, welche sich räumlich manifestieren kann.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Welt aus der Sicht der Relativitätstheorie vollkommen determiniert ist, da sie räumlich existiert, und aus der mikrokosmischen Perspektive der Quantentheorie ist die Wirklichkeit prinzipiell unbestimmt, da hier nur zeitliche Potentiale und statistische Wahrscheinlichkeiten erfassbar sind. Doch die Welt zwischen dem ganz Großen und dem ganz Kleinen, der Mesokosmos des Lebens und des Menschen erscheint uns weder vollkommen determiniert noch vollkommen frei bestimmbar. Hier beobachten wir ein evolutionäres Spiel von Formen, die zwar global bestimmten Rahmenbedingungen genügen müssen, aber im Einzelnen den Weg ihrer Gestaltung frei wählen können. Weder gibt es ein Naturgesetz, nach welchem Giraffen lange Hälse besitzen müssen, noch gibt es eines, welches das einzigartige Aussehen des einzelnen Giraffenindividuums festlegt. Dies ist die Welt des deterministischen Chaos, wie sie die moderne Theorie dynamischer Systeme und die fraktale Geometrie in den letzten Jahrzehnten erfassen konnte. Es ist die eigentliche Lebenswelt des Menschen, in welcher er durch Selbstorganisation den Sinn seines Lebens schafft.

Dago Vlasits
Wissenschaft und Weisheit · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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