Schule des Rades

Dago Vlasits

Zur Orientierung in der globalen Kultur

Das Gewahrseinssubjekt…

Laut Stephen Hawking stehen wir heute kurz davor, die endgültige theory of everything zu finden. Viele Philosophen und Naturwissenschaftler halten aber die vollständige theoretische Rekonstruktion der Wirklichkeit prinzipiell für unmöglich. Sie ziehen die Vorstellung vor, dass wir die Wahrheit niemals endgültig in den Händen halten werden, dass zwar Theorien bis ins Unendliche verbessert werden können, doch jede Theorie immer nur eine Annäherung an die unerreichbare Wahrheit ist.

Falls nun aber Hawking und die Stringtheoretiker recht haben, dass also eine letzte Theorie formulierbar ist, so wird dies natürlich nicht das Ende von Wissenschaft und Forschung bedeuten. Wenn die Grenzen des Wissbaren ausgelotet sind — und nur diese sind etwa für Hawking ein lohnender Untersuchungsgegenstand, und nicht eine unfassbare Sache namens Realität — so würde sich wohl die Forschung mehr auf die Gestaltung der Zukunft richten, auf die Schaffung neuer Dinge mit Hilfe des einmal errungenen Wissens. Mehr als heute noch wäre die Wissenschaft in den Dienst der Technik gestellt und als eine Kunst oder ein Handwerk verstanden, das neue Erfindungen und Synthesen kreiert. Wenn die Naturwissenschaft dereinst zu einem solchen Selbstverständnis findet, so wäre nichts verloren — man kann den Stringtheoretikern nur viel Erfolg wünschen.

Aber kann eine solche letzte Supertheorie ganzheitlich sein? Nein, insofern sie ja eine Theorie im Rahmen der naturwissenschaftlichen Prämissen ist und daher die Behandlung des subjektiven Lebenssinnes ausschließt. Hawking, ein typischer Vertreter der scintific community, bleibt dem wissenschaftlichen Objektivitätsideal verpflichtet, welches sich ja geradezu dadurch definiert, dass alles Subjektive ausgeschlossen bleibt. Doch obwohl das Subjekt in einer wissenschaftlichen Theorie keine Rolle spielen mag, ist es letztlich aber nicht einmal bloß Teil der ganzen Wirklichkeit, sondern ihr letzter und einziger Grund und Ursprung, denn das Gewahrwerden der Welt vollzieht sich aus und auf diesem Grund. Es gibt keine andere Realität als hier und jetzt in meinem und Deinem Gewahrsein. In religiösen und mystischen Bestrebungen sieht Hawking allerdings bloß die Ausflüchte mathematisch Unbegabter, wie er in einem Interview mit René Weber bemerkt (Weber, 1986). Doch was er als unwissenschaftlich und anthropozentrisch verwirft, müssen wir im Gegensatz zu ihm gleichsam mit logischer Notwendigkeit als die eigentliche und einzige ganzheitliche Einstellung bestimmen. Denn das subjektive Gewahrsein ist und bleibt immer die zeugende Mitte dieser Welt.

Die wissenschaftliche Betrachtungsweise ist also prinzipiell nicht ganzheitlich, da sie den Beobachter vom Beobachteten trennt und außerhalb vom beobachteten System stehen sieht. Zwar wurde man durch die Quantenphysik des unauflöslichen Zusammenhangs von Beobachter und Beobachtetem gewahr, und der Beobachter als ein die Wirklichkeit verändernder und erschaffender Teilnehmer erkannt. Doch damit wurde die wissenschaftliche Forschung nicht zwangsläufig zu einer Suche nach Weisheit und Ganzheit. Die eben zitierte fundamentale Einsicht, nämlich die Erkenntnis der prinzipiellen Unschärfe und Unbestimmtheit der Materie auf Quantenebene, dass es also einen Bereich in der Wirklichkeit gibt, in dem sich Zufallswahrscheinlichkeit und subjektive Entscheidung des Beobachters auswirken können, ist den meisten Wissenschaftlern bloß ein weiteres objektives Faktum. Man weiß, dass es im Forschen als Grenze der Erkenntnis akzeptiert und soweit als möglich umgangen und ausgeschlossen werden muss. Dies gelingt sehr gut, da das Unscharfe quantisiert ist und mit systematischer Präzision als klar umgrenzter Bereich außer Rechnung gestellt werden kann — was sich einer rein utilitaristisch eingestellten Naturwissenschaft einfach als Einschränkung der Prognosemöglichkeiten darstellt.

Für den wissenschaftlich Vorgehenden ist der Bereich der Unschärfe also der unvermeidbare blinde Fleck. Dem sinnsuchenden Menschen jedoch ist das Unwägbare und Nicht-Objektivierbaren nicht eine konstante Größe in einem Kalkül, sondern das lebendige, zu ihm sprechende Gegenüber, welches in der erscheinenden Welt haust. Diese Einstellung hat natürlich jeder gläubige Mensch, der in allem Geschehen das Wirken Gottes erkennt. Sie resultiert aus dem Wechsel von einer theoretischen Betrachtung zur subjektiven Erfahrung des Sinnes. Doch damit haben wir nur überhaupt einmal die philosophische, religiöse oder mystische, die sinnsuchende und sinnerfahrende Haltung bestimmt. In der Hermetik ist es der Weg der Weisheit, auf dem der Mensch das Subjekt nicht als den Beobachter hinter die Glasscheibe verbannt, sondern im Herzen der Erscheinungen erkennt. Dies ist aber eine Intention, die der wissenschaftlich Vorgehende ja überhaupt nicht hat. Deshalb kann eine wissenschaftliche Theorie niemals ganzheitlich sein, auch nicht eine TOE, wie sie bis heute existiert.

Wenn eine TOE wirklich eine TOE sein, also alles umfassen will, muss sie auch das subjektive Leben umfassen. Würden daher die Stringtheoretiker tatsächlich eine ganzheitliche Theorie formulieren, so wäre dies nicht nur eine Theorie der Materie, sondern auch eine Weisheitslehre. Sie wäre auch eine Erkenntnistheorie und müsste die Grundprinzipien der menschlichen Psychologie enthalten, ja hätte gar Ähnlichkeiten mit einer Religion. Denn ein ganzheitliches Weltbild ist ein Bild vom Ganzen, das nicht nur die Funktionen der Dinge sondern auch den Sinn des menschlichen Daseins umfasst.

Es ist mehr als fraglich, ob von Seiten der Physiker jemals so ein Bild ausgearbeitet wird. Selbst wenn sie eines Tages gezwungen wären, das subjektive Gewahrsein als verursachenden Faktor bei der Entstehung der Welt anzuerkennen, wären sie nicht schlagartig Weisheitssucher, sondern würden wahrscheinlich das eingedrungene subjektive Moment in einer ähnlichen Weise objektivieren, wie sie es schon mit der Quantenunschärfe getan haben. Man sollte daher von Physikern nicht unbedingt erwarten, dass sie zu Philosophen werden. Dennoch könnte sich in Zukunft wegen der neueren physikalischen Entwicklungen das Verhältnis der Physik zur Philosophie grundlegend ändern. Dass sie philosophisch werden, das werfen Kritiker oft alternden Physikern vor, doch vielleicht wird sich die in die Jahre gekommene Physik in diesem Jahrhundert endgültig — zumindest — als die unumgehbare Schwelle zur Philosophie und Erkenntnistheorie positionieren.

Um zu einer hermetischen Weltsicht auf der Höhe des heutigen naturwissenschaftlichen Verständnisses zu kommen, müssen wir aber nicht warten bis die Physiker eine Theorie des Weltganzen formulieren, die zugleich eine Weisheitslehre ist. Wir müssen nicht einmal warten, bis sie eine rein physikalische Theorie des Ganzen formuliert haben. Schon der Erkenntnishorizont, den uns Quantentheorie, Chaostheorie und Relativitätstheorie über die drei Kosmen eröffnet haben, ermöglichen uns den Entwurf einer zeitgemäßen hermetischen Weltsicht und einer Kosmogonie, welche den Ort und den Sinn des Menschen ausreichend bestimmen. Dies ergibt sich natürlich nicht einfach als Summe oder Synthese dieser drei Theorien. Alchimistisch gesprochen bedarf es der Tinktur, des philosophischen Steins, um das Blei des naturwissenschaftlichen Wissens in das Gold der Weisheit zu verwandeln. Dieses Elixier ist das Rad, das von A. Keyserling auf der Höhe des heutigen Zeitgeistes neuformulierte pythagoräische Erbe, und von ihm als Weltgrammatik und als Ur-Code der Semiotik (Keyserling 1995) bezeichnet. Es birgt die Anfangsgründe des schamanischen, chinesischen und astrologischen Denkens als integrale Teile. Es umfasst alle relevanten epistemologischen Konstanten und ermöglicht die Eichung aller Erfahrung und aller naturwissenschaftlichen Information auf den Sinn des Menschen. Das Erlernen der Strukturen des Rades ermöglicht die Einstimmung des Menschen auf seine kosmische Umwelt und die Erweckung des eigentlichen Subjekts, die Leere des Gewahrseins.

Dago Vlasits
Zur Orientierung in der globalen Kultur · 2000
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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