Schule des Rades

Dago Vlasits

Vom Sinn der Zahl - Teil III

Die Mathematik des Menschen

Während also die absolute Größenskala die Gattung Mensch in die Mitte setzt, wird durch die Relativitätstheorie und die Urknalltheorie jeder Raumpunkt, den ein Wesen einnimmt, zum Zentrum der erscheinenden Welt. Neben diesen physikalisch-ontologischen Befunden, welche den Menschen in die Mitte seines Universums setzen, wird auch von epistemologischer Seite her klar, dass das menschliche Wesen niemals aus der Mitte entlassen werden kann, mag der Einzelne durch falsches Denken noch so sehr dieser Mitte entfremdet sein. Vom Menschen aus ergibt sich ein neues, ein fünftes Verhältnis zur Urkraft, erschließt sich ein neuer, doch von jeher in der Ganzheit verborgener Sinn des Universums, eben der Sinn des Menschen. Nur von gewissen wissenschaftlichen Standpunkten aus erscheint der Mensch als spätes Produkt einer zufälligen Evolution und in keiner Weise als eine Ur-Sache. Mathematisch, vom Gewahrsein der Zahl her aber ist der Mensch als die Fünffältigkeit seit jeher einbeschlossen im All, als eine ewige Ur-Sache und ein ewiger Sinn des Ganzen.

Das geometrische Bild dieser Fünffältigkeit sind die fünf Punkte des Pentagons. Von der Vierfältigkeit her besehen ist das Fünfte jedoch ein Nichts. Es ist der nullhafte Mittelpunkt, welcher durch die zwei Diagonalen des Quadrats konstelliert wird. Dieser Mittelpunkt scheint eher als Folge, denn als Ursache des Quadrats. Das Quadrat bedarf zu seiner Existenz des fünften Punktes nicht, sowenig wie das Universum des Menschen zu bedürfen scheint, und schon gar nicht des Menschen als sein verursachendes Prinzip. Und doch ist das Menschsein für uns eine niemals hintergehbare Wirklichkeit, mögen wir noch so sehr jeden Anthropozentrismus meiden wollen. Alles was über die Welt ausgesagt wird, wird von einem Menschen aus gesagt. Er ist der, der über die Fähigkeit des Zählens und Messens Kenntnis nimmt von der Welt. Alle Bewusstseinsfunktionen — empfinden, denken, fühlen und wollen — sind abgeleitet aus diesem ursprünglichen mathematischen Vermögen, sodass der Mensch letztlich erkennen muss, dass alle Welt immer nur eine Welt ist, welche sich seinem Bewusstsein einbildet — was den Solipsisten zu dem Schluss führt, alles sei nur seine eigene Einbildung, und den Konstruktivisten, alles wäre nur seine eigene Konstruktion. Doch an den Grenzen und Rändern der vierdimensionalen Wirklichkeit, bei welchen der Mensch mit seinem Erkenntnisvermögen wieder auf sich selbst zurückgeworfen erscheint, treffen solipsistische und konstruktivistische Positionen nur die halbe Wahrheit. Befriedigend ist nur die pythagoräisch-kabbalistische Schau, welche auch die schamanische ist, also die der Ur-Religion des Menschen. Im Sacred Count etwa, wie er von den nordamerikanischen Stämmen überliefert ist, wird das All als die Mächte der 10 Urzahlen begriffen. Im Kreis der Himmelsrichtungen ist

  • die 1 das Feuer im Osten,
  • die 2 das Mineral im Westen,
  • die 3 die Pflanze im Süden und
  • die 4 das Tier im Norden, mit dem Polarstern als Drehpunkt des Himmels.
  • Für den Menschen als 5 ist die Mitte des Kreises ausgespart. Er ist gleichsam in der Mitte verborgen, wie der Mittelpunkt im Quadrat. Er ist die Nahtstelle, von welcher sich auch die weiteren verborgenen oder eingefalteten Zahlen oder Dimensionen erschließen,
  • die 6 als die Macht der weisenden Ahnen und Pioniere im Südosten,
  • die 7 als die Magie der Naturgeister im Südwesten,
  • die 8 der Engel im Nordwesten, welche über das Gleichgewicht der Gesetzlichkeit das Universum erhalten und befrieden, und
  • die 9 der Musen im Nordosten, die Potentialität des kreativen Schaffens, welches sich aus den Kombinations­möglichkeiten einer in Elemente gegliederten Wirklichkeit ergibt.
  • Mit der 10 finden wir wiederum den Menschen in der Mitte des Kreises, doch diesmal nicht den irdischen Menschen als den Mitarbeiter der Evolution, welcher als die 5 durch die gerichtete Aufmerksamkeit den Willen angejocht hat. Die 10 in der Mitte ist der Große Mensch, der Quell aller Gottesbilder, der Mensch im All als das Urbild menschlicher Vollendung, zu welcher alle Evolution und alles Wollen strebt.

Wer das schamanische, pythagoräische oder kabbalistische Zahlenverständnis nicht als Mathematik anerkennt, sondern erst jene Formalwissenschaft, welche nur Spezialisten verstehen, hat das Wesen des Mathematischen nicht begriffen. Das Mathematische ist für uns wie das Wasser für den Fisch. Und nicht erst die kompliziert gekräuselte Welle ist Wasser, sondern auch das allumhüllende Medium, welches die meiste Zeit über unbemerkt bleibt. So unbemerkt wie die Grammatik in der Kommunikation, bleibt die sinnstiftende Zahl in allen unseren Erfahrungen unbemerkt, wenn wir nicht zur Ebene des Gewahrseins durchstoßen. Alle Sinnesdaten sind ein Mehr oder Weniger von Schwingungen bestimmter Medien, alles Denken ist Teilen, alles Fühlen ist das Innewerden von Proportionen und den daraus folgenden Resonanzen, alles handelnde Wollen führt in das freie Spiel der Kombinatorik. Und wenn der Liebende von der Vereinigung spricht, der Religiöse von der Unio Mystica, so reden sie vom tiefsten Wesen der 1, und wenn der Buddhist die Leere als Essenz aller Form erkennt, so meint er eigentlich die schöpferische Potenz der 0.

Mathematik ist also keine späte Erfindung des Menschen, der Mensch ist eher eine Erfindung der Mathematik. Indem der Mensch die Natur des Universums zu begreifen versucht, findet er letztlich sich selbst mit seinem spezifischen Erkenntisvermögen, welches mathematisch ist. Alle Quantitäten wie auch alle Qualitäten haben numerischen Charakter, und die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Epistemologie und Ontologie, einem Kosmos des Menschen und einem Kosmos an sich erweist sich als müßig. So ist eigentlich das Innewerden der mathematischen Natur des schöpferischen Urgrunds, welcher im äußeren Kosmos in der gleichen Weise wirksam ist, wie im inneren Kosmos des menschlichen Bewusstseins, der eigentliche Schritt zum Menschsein.

Im Menschen nun wird nicht nur der Kosmos seiner selbst bewusst, sondern in Menschen offenbart sich erst die Natur des Kosmos in seiner reinsten Form — es ist ein auf Grundlage von Zahl und Maß sich selbst organisierendes Wesen. Fritjof Capra hat einmal erklärt, es gebe wohl keine anthropomorphere Metapher für das Universum, als die vom Maschinenuniversum der klassischen Physik, denn nur Menschen bauen Maschinen. Die klassische Physik hat sich jedoch als unzutreffend für die Beschreibung des Universums erwiesen. Statt dem Zwangslauf einfacher Mechanismen, finden wir heute Komplexität, Spontaneität und Selbstorganisation aus dem Chaos an den Wurzeln unserer Wirklichkeit. Suchen wir für dieses moderne Verständnis des Kosmos eine Metapher, so ist der Mensch selbst ein solches Sinnbild für das Universum. In keinem Wesen sind Komplexität, Spontaneität und dauernde Selbstorganisation mehr verwirklicht, als im Menschen.

Im Menschen biegt sich gleichsam die Emanation des Urgrunds, also das materielle Universum auf eben diesen Urgrund zurück, aus welchem es seinen Ursprung genommen hat. Für ihn wird der Urgrund als kosmogonische Kraft erfahrbar, als Urenergie, welche aus dem Feuer Stein, Pflanze und Tier erschafft, und durch die Evolution des Menschen wieder auf den Urgrund zurückweist. In der immer tieferen Teilhabe an dieser Urkraft erkennt der Mensch Ziel und Sinn aller Evolution.

Vollzieht man den Schritt von vier zu fünf, um also auch den Sinn des Menschen im Universum, und somit einen integralen und eigentlich fundamentalen Teil dieses Universums mitzudenken, erweist sich die wissenschaftliche Diktion letztlich als inadäquat. Von einem Urknall zu sprechen, welcher in Myriaden von Teilchen zerstiebt ist weniger treffend, als vom brahmanischen Mahapurusha oder dem jüdischen Adam Kadmon, dem Ur-Menschen, der in der Emanation in viele Teile zersplittert, und über die Evolution zur Wiedervereinigung mit seinem göttlichen Urgrund strebt.

Kein anderes Tier plagen Fragen wie die nach dem Tod oder dem Ursprung. Mit dem Vermögen solchen Fragens ist aber die wesentliche Antwort mitgegeben: Es gibt den Ursprung und den Tod, es gibt jenes unerkennbare Nichts, dem alles Neue entspringt und in das alles wieder hineinstirbt. Der Mensch wird also nicht nur der Wirklichkeit in der vierdimensionalen Raumzeit bewusst, er wird auch deren Ursprung aus einer unergründlichen Singularität gewahr, welche die Naturwissenschaft als den Urknall oder als eine ursprüngliche Quantenfluktuation beschreibt, und dessen Chiffre die Null ist. Ob 4 Dimensionen, 4 Attraktoren oder 4 Kräfte, sobald der Mensch die vierfältige Ganzheit erfasst hat, weiß er um ein Fünftes, welches für die Vierfältigkeit stets das Nichts eines ungreifbaren Hintergrunds bleibt.

Im Schritt von 4 zu 5 aber erst erkennt der Mensch den wahren Körper dieses Universums, welcher zugleich der Körper des inneren Menschen ist, die mathematische Struktur seines Gewahrseins. Zu den 4 Dimensionen gesellt sich die Nullte, und diese Singularität ist für den erwachten Menschen fortan kein obskurer Gegenstand der Physik, sondern die allgegenwärtige Urkraft, der von Augenblick zu Augenblick das All entspringt. Der Körper des inneren Menschen aber, die Struktur seines Gewahrseins, in welches sich die Welt einbildet, folgt dem fünffältigen Muster der 5 Dimensionen. Ihre Potentialität wird durch die 5 Zahlenarten erkennbar.

Von der reellen (irrationalen) Zahl her gesehen ist die Welt ein wogendes Chaos unendlicher Möglichkeit, ein Gewimmel von Teilchen, deren Anfangswerte für uns niemals erkennbar sein werden. Von der ganzen Zahl her gesehen gewinnt dieses Chaos ganzheitliche Gestalt, wird etwa zu einem Baum. Von der rationalen Zahl her gesehen wird uns der Baum zu einem logischen Zusammenhang, von der komplexen Zahl her besehen aber gewinnt er und jedes andere lebendige Wesen seine unverwechselbare Individualität, jene eigentliche Realität, welche sich von Augenblick zu Augenblick aus singulären Entscheidungen erschafft, wie bei den Bifurkationen des seltsamen Attraktors. Alle 4 Zahlenarten haben aber ihren Ursprung in einer Fünften, den natürlichen Zahlen der nullten Dimension. Es ist das Zählen des Augenblicks, das Gewahrwerden von Sinn und Sein. Die Vereinigung der wirklichkeitsschaffenden komplexen Zahl mit der sinnschaffenden natürlichen Zahl aber ist die Teilhabe am Werden dieses Sinnes.

Dago Vlasits
Vom Sinn der Zahl - Teil III · 1996
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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