Schule des Rades

Dago Vlasits

Wissenschaft und Weisheit

Voraussetzung

Ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. versuchten die Ur-Väter unserer modernen Wissenschaft, die vorsokratischen Philosophen, die Ganzheit von Gott, Mensch und Welt in eine logische Begrifflichkeit zu fassen. Sie suchten die Arché, das Ur-Prinzip, aus welchem sich Materie, Leben und Bewusstsein ableiten lässt, und welches bis dahin nur mythisch artikuliert war. Den mythischen Göttern aber sagten sie den Kampf an, und die logisch begriffene Ur-Einheit sollte auf ein sinnlich Erfahrbares weisen bzw. durch logische Folgerungen die Sinneswelt erklärbar machen. Thales fand die kosmische Ursubstanz, aus welcher alles wird, im Wasser, Anaximander sah sie in der Potenz des Unendlichen, Anaximenes in den verschiedenen Dichtezuständen eines luftigen Kontinuums, Pythagoras im harmonikalen Gewebe der Zahl, Xenophanes im ewig ruhenden Gesetz, Heraklit im singulären, unberechenbaren Werden, Parmenides und Zenon im logisch zugänglichen und alldurchdringenden Sein, Empedokles in Elementen, welche zwischen Liebe und Streit ihr evolutionäres Spiel entfalten, Anaxagoras in vom göttlichen Geist bewegten Samen, und Leukipp und Demokrit in unteilbaren Atomen, welche sich in der Leere des Raumes von selbst bewegen. Mit dem letzten Begriff war aber nicht mehr die erwähnte Ganzheit gemeint, denn in der atomaren Welt von Leukipp und Demokrit verloren Gott und die menschliche Seele ihre Wirklichkeit. Alles ist hier nur mehr ein zufälliges Kombinationsprodukt von bewegten, aber blinden und dumpfen Materieteilchen.

Hier ist die Reduktion an ihr Ende gelangt, denn weniger als Staub kann man nicht voraussetzen, wenn man überhaupt noch etwas über eine sinnlich-materielle Welt aussagen will. Aber letztlich ist der ganze wissenschaftliche Ansatz, welcher durch die Vorsokratiker seine erste Artikulation fand, reduktionistisch. Denn Denken bedeutet selbstverständlich immer Reduktion auf das Einfache und ist eine Abstraktion von der lebendigen Wirklichkeit. Der sprachliche Begriff und seine möglichen Verknüpfungen können die ganze Wirklichkeit nur im Denken vertreten, es ist nicht die Wirklichkeit selbst. Richtiges Denken kann aber auf die Ganzheit hinweisen. Es kann zur ganzheitlichen Wirklichkeit immerhin dasselbe Verhältnis haben wie der Finger, welcher auf den Mond zeigt. Den Mond aber muss natürlich jeder selber schauen. Nun kann der Mensch, selbst wenn eine Theorie in die richtige Richtung weist, nur auf den Finger starren und sich fortdauernd beklagen, dass dies nicht der Mond sei. Eine Theorie kann aber auch behaupten, dass es überhaupt keinen Mond zu sehen gibt, sondern dass der in eine sinnlose Leere weisende Finger vor der Nase die einzige Wirklichkeit ist. So sieht etwa der Atomist im fahlen Staub unter den Füßen den tiefsten Grund allen Geschehens. Ob ich den Mond, also den Sinn und die lebendige Ganzheit sehen und erfahren will, ist eine subjektive Entscheidung, keine Beweiskraft einer Theorie kann mich dazu zwingen.

Auf dem Weg der Weisheit, bei welchem die Annahme eines ganzheitlichen Sinnes die Voraussetzung bildet, haben Denken und Theorie nicht die Funktion eines Beweises. Vielmehr muss zu einem Denken gefunden werden, welches in Übereinstimmung mit der ganzheitlichen Grundvoraussetzung steht. Dann eröffnen Theorie und Denken den Zugang zum inneren Gliederbau der Welt, dessen Kenntnis spontanes Handeln und ein Leben in Weisheit ermöglicht.

Dies ist natürlich das Gegenteil eines wissenschaftlichen Vorgehens. Die Wissenschaften gehen von abgegrenzten sinnlichen Gegebenheiten aus, schließen vorsichtig auf weitere Zusammenhänge und kommen nie zur ganzheitlichen Wahrheit, sondern immer nur zu ganz bestimmten Verallgemeinerungen. Wer nun glaubt, die digital operierende wissenschaftliche Methode bilde den einzig legitimen Zugang zur Erkenntnis, belächelt den Weisheitssucher als hoffnungslos naiv oder vermessen, im besten Fall wird sein Bemühen als Privatangelegenheit und subjektive Meinung ohne jede allgemeine Relevanz abgetan. Was wissenschaftlich eingestellte Menschen an holistisch eingestellten Menschen kritisieren, ist ihre Grundvoraussetzung, dass dem All eine sinnvolle Ganzheit zugrunde liegt, was ja durch die wissenschaftliche Methode niemals verifizierbar oder falsifizierbar ist. Doch die Voraussetzungen der Wissenschaft beruhen nicht weniger auf Glauben und außerrationalen Entscheidungen, wie etwa die Voraussetzungen einer Religion. Die Grundannahme der Wissenschaften, dass die Welt aus Objekten besteht, die vom Subjekt getrennt sind, besitzt keine logische Begründung, sondern beruht bloß auf einem breiten Konsens. Dieser wird allerdings durch die Logik insofern nahegelegt, als die Logik selbst zwischen Zeitworten und Raumworten, zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet. Die Annahme von Objekten ist also durch die Struktur der sprachlichen Logik selbst vorgegeben, doch diese Annahme kauft man sich damit ein, indem man eben die Logik als verbindliches System wählt (und das Vermögen des analogen Denkens der rechten Gehirnhemisphäre brach liegen lässt). Eine außerrationale Wahl ist also der Anfangsgrund jeder lebenspraktischen als auch theoretischen Position.

Der österreichische Mathematiker Gödel konnte in seinem Unvollständigkeits-Theorem beweisen, dass kein rationales System seine eigenen Voraussetzungen begründen kann, letztlich schwebt jedes System über einem unergründlichen Abgrund, welcher für das Bewusstsein ein Nichts ist. Der wissenschaftlich eingestellte Mensch wendet sich von dieser der Sprache unzugänglichen Leere ab und geht flugs zur Tagesordnung über. Der holistische Mensch erkennt darin den unerschöpflichen Urgrund, welcher alle theoretischen und realen Systeme gebiert, und erkennt darin die Wurzel aller Subjekthaftigkeit. Dabei handelt es sich aber weniger um eine Erkenntnis als um ein Wagnis und eine Entscheidung. Im Vertrauen, dass ihn dieser Grund trägt, kann er mit Ulrich von Hutten sagen: Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt.

Doch der mystisch oder holistisch eingestellte Mensch steht damit nicht zwangsläufig und in jeder Hinsicht außerhalb jeder Rationalität. Er anerkennt zwar einen außerrationalen Urgrund, in welchem er als Subjekt west, doch gleichzeitig anerkennt er eine allen Wesen gemeinsame Welt, welche in ihrer Gesetzlichkeit rational zugänglich ist.

Somit knüpft nicht nur die moderne Naturwissenschaft an den Ergebnissen der Vorsokratiker an, auch die moderne Weisheitssuche findet darin ihre legitimen Wurzeln. Das Streben nach Weisheit wird dem Ansatz der Vorsokratiker sogar in höherem Maße gerecht, indem sie in deren Hylozoismus und Pantheismus die ganzheitliche Intention erkennt und diese nicht als primitiven Aberglauben und mangelnde philosophische Entwicklung abtut, wie es die moderne Wissenschaft meint, tun zu müssen. Abgesehen von einigen rühmlichen Ausnahmen neigen ja die meisten Wissenschaftler noch immer zu der Auffassung, dass Wissenschaft und Weisheit nichts miteinander zu tun haben und fein säuberlich getrennt werden müssen, ein Ansinnen, das den Vorsokratikern wohl äußerst befremdlich erschienen wäre. Das Streben nach Weisheit und das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis sind zwar unterschiedlich motiviert, doch die wissenschaftliche Erkenntnis kann dem Streben nach Weisheit dienstbar sein. Die naturwissenschaftlichen Ergebnisse können zu einem systemischen Denken beitragen, welches in Übereinstimmung mit den ganzheitlichen Voraussetzungen ist und ein Leben in Weisheit ermöglicht. Dabei ist keine Vergewaltigung wissenschaftlicher Fakten und Daten notwendig, sondern bloß eine sinnvolle Deutung.

Diesem Weg folgend, erkennen wir sogar die zur Spitze getriebenen Reduktionen der Naturwissenschaft als fruchtbar für ein ganzheitliches Weltverständnis. Einerseits wurden letzte Konstanten entdeckt, welche auch jedes philosophische Denken berücksichtigen muss, wenn es nicht bloß Wolkenkuckucksheime bauen will. Zudem hat gerade das Finden der kleinsten Einheit im Wirkungsquant zu einer Überwindung der naiven Vorstellung einer Objektwelt geführt. Die Quantentheorie entwirft in letzter Konsequenz die Welt als einen Allzusammenhang jenseits von Raum und Zeit, wie es das Bellsche Theorem und die Experimente von Alain Aspect zeigen. Andererseits hat die naturwissenschaftliche Methode auf komplexeren Ebenen wie der Chemie und Biologie den atomistischen Reduktionismus als unzulänglich erkannt, sodass sich immer stärker das systemische Denken gegenüber dem mechanistischen Baukastenprinzip durchsetzt. Im Rahmen der Chaostheorie entdeckte man globale Organisationsmuster mit universeller Gültigkeit, welche mehr durch spontane Selbstorganisation als durch strenge Kausalität gekennzeichnet sind.

Wenn sich nun in den Naturwissenschaften auch immer mehr die ganzheitlichen Konzepte durchsetzen, handelt es dabei aber noch immer nicht um Ganzheitlichkeit, welche auf dem Weg der Weisheit vorausgesetzt wird. Es geht dabei nur um einen kleinen Schritt, doch dieser ist von entscheidender Bedeutung und macht einen gewaltigen Unterschied. Wird dieser Schritt nicht vollzogen, bleiben wissenschaftliches Erkenntnisstreben und Streben nach Weisheit zwei grundverschiedene Einstellungen. Wir wollen den Unterschied noch einmal hervorheben:

In gewisser Hinsicht ist die Suche nach der Arché, nach dem Urprinzip, dank der reduktionistischen Neigung der Naturwissenschaften an ein Ende gelangt. Man sucht zwar noch die vereinheitlichende Theorie für Alles, und die Urkraft, auf welche die 4 Grundkräfte (Elektromagnetismus, Gravitation, starke und schwache Kraft) rückführbar wären, ist noch nicht entdeckt. Doch mikrokosmisch ist das Wirkungsquant, mesokosmisch die spontane Singularität der Selbstorganisation und makrokosmisch das Kontinuum als letzte Einheit erkannt worden. Aber eine ganzheitliche Einstellung des Menschen ist durch die wissenschaftliche Methode nicht erreichbar. Das Streben nach einer ganzheitlichen Einstellung ist das Streben nach Weisheit, und dieses ist verschieden vom Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Während die griechische Suche nach der Arché noch die Suche nach einer Wissensgrundlage war, welche ein Leben in Weisheit ermöglicht, geht die moderne Wissenschaft auf Strategie und nicht auf Weisheit. Denn die wissenschaftliche Methode schließt das Subjekt aus, auch wenn die Singularität, welche keiner Kausalität unterworfen, sondern Ursache seiner selbst ist, sich als letzte Wesenheit herausgestellt hat. Der Weisheit geht es um die Erringung eben dieser Subjekthaftigkeit. Um diese zu erreichen, ist eine Wandlung des Menschen notwendig, und die Singularität, welche als letzte und erste Substanz im Fokus der wissenschaftliche Beobachtung aufgetaucht ist, muss von einem Objekt des Denkens zur ursprünglichen existentiellen Erfahrung werden. Es ist der Schritt vom Bewusstsein zum Gewahrsein.

Was ist nun Gewahrsein im Unterschied zum Bewusstsein? Hat der Mensch seine Identität im Bewusstsein verankert, so lebt er in den Wissensinhalten des Denkens. Wagt er den Schritt zum Gewahrsein, so west er im schöpferischen Ursprung des Werdens, des Entscheidens und spontanen Handelns, also des Wollens. Denken akkumuliert Wissen, häuft gleichsam Vergangenheit an, welche strategisch verwertet werden kann, Wollen hebt an der Lebendigkeit des schöpferischen Augenblicks an, an welchem die Wirklichkeit noch nicht entschieden ist. Bewusstsein erschöpft sich also im Nach-denken der gegebenen Ordnung, Gewahrsein schafft den Sinn von Augenblick zu Augenblick durch Selbstorganisation aus dem Chaos.

Was auch immer für eine letzte Einheit die Naturwissenschaft findet, ob sie diese nun als Atom, Element, Singularität und Wirkung, oder als Äther, Feld, Kontinuum oder System bezeichnet, immer meint sie damit eine seelenlose, technisch-physikalische Entität. Für das Gewahrsein aber ist das Universum nicht von Systemen bevölkert, sondern von subjekthaften Wesen. Sie sind unterschiedlich bekleidet, befinden sich auf verschiedenen Integrationsniveaus. Alle sind Teil des einen und einzigen Subjekts, mit welchem sie auf Grund ihrer Nullhaftigkeit letztlich identisch sind. Denn die letzte Einheit ist eigentlich eine Nullheit, die Sprache kann nur auf sie deuten, für die Mathematik ist es die Ziffer Null. In der christlichen Mystik ist es das Nichts, dem das Etwas entspringt, buddhistisch Sunya, die Leere, welche aller Form zugrundeliegt.

Dago Vlasits
Wissenschaft und Weisheit · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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