Schule des Rades
Dago Vlasits
Die Atomstruktur – ein Bild menschlicher Ganzheit
Von der Arché zum Wirkungsquant
Alles besteht aus Atomen
, war die Antwort des Physikers und Nobelpreisträgers Richard Feynman auf die Frage, was er denn als wichtigste Botschaft der Menschheit an eine außerirdische Zivilisation senden würde. Dass mit der Erkenntnis des Atoms alles Wesentliche erkannt ist, diese Überzeugung haben als erste die beiden Vorsokratiker Leukipp und dessen Schüler Demokrit artikuliert. Die Suche nach dem allumfassenden Grundprinzip, nach der ersten Ursache, die anstatt nur mythisch geglaubt auch logisch verstehbar sein sollte — welche Suche man als das Programm der Vorsokratiker bezeichnen kann — wurde von den Atomisten gleichsam auf den Punkt gebracht. Das Atom als das Kleinste, die Struktur und Gestalt der kleinsten Einheit gilt es zu erkennen, denn aus ihr besteht das All der großen Einheit, sie ist die All-Bedingung, die Voraussetzung der Allgestaltung.
Mit Leukipp und dessen Schüler Demokrit (um 460-370 v. Chr.) taucht also die Vorstellung auf, die gesamte Vielfalt der Erscheinungen sei auf kleinste Teilchen reduzierbar. Von diesen ersten Atomisten wurden die Atome der Form nach als unendlich viele regelmäßige und unregelmäßige Körper der dreidimensionalen Geometrie vorgestellt, wobei jedes von ihnen als unteilbar und mit einem Bewegungsimpuls ausgestattet gedacht wurde. Unterschiedliche Größe, Gestalt, Lage und Anordnung der Atome galten den Atomisten als die Ursache der uns umgebenden Welt. In der vor unseren Augen erscheinenden Wirklichkeit gäbe es wohl Entstehen und Vergehen, nicht aber auf der fundamentale Realitätsebene der Atome. Dort vollziehen sich nur Umgruppierungen, aber keine Änderungen im Wesentlichen.
Mit dem Atomismus von Leukipp und Demokrit war der Fächer von Denkmöglichkeiten vollendet, welchen die Vorsokratiker entfalteten. Von einfachen Naturbeobachtungen ausgehend und nur mit dem Lot des Denkens ausgestattet, erkundeten die zwölf bedeutendsten Philosophen der vorsokratischen Epoche jene Grundkonzepte, die wir gleichsam als metaphysischen Hintergrund auch bei modernen physikalischen Begriffen und Vorstellungen wiederfinden.
Ausgangspunkt der ionischen Aufklärung war die Frage nach einer empirischen Grundsubstanz, auf welche die Vielfalt der Erscheinungen rückführbar ist, eine Frage, die Thales als erster artikulierte. Die Physik auf ihrer Suche nach den fundamentalsten Teilchen bzw. den Elementarteilchen der vereinigenden Urkraft ist bis auf den heutigen Tag von dieser Idee getragen. Doch die Arché, das Grundprinzip des Thales, welches er als das Wasser identifizierte, war nicht sosehr eine Vielfalt diskreter Einheiten, sondern vielmehr ein durchgehendes Kontinuum. Die moderne Quantenmechanik fußt hingegen auf dem Konzept diskontinuierlicher Einheiten, also auf der Vorstellung kleinster, teilchenartiger Elemente, wie es bei den Atomisten am klarsten artikuliert wurde. Doch der Kontinuitätsbegriff des Thales schließt das Diskontinuierliche nicht aus. Tatsächlich konnte Thales mathematisch den Zusammenhang von kontinuierlich und diskret zeigen.
Der Thalesche Halbkreis zeigt das Ineinanderübergehen von Krumm und Gerade, von Kreis und rechter Winkel. Er zeigt das Entstehen und Vergehen des rechtwinkeligen Raumes aus dem Nichts und in das Nichts hinein, bei 0° Winkelabstand der Hypotenuse (des Kreisdurchmessers) von der Kathete des rechten Winkels fallen das Kontinuierliche und das Diskontinuierliche in eins. Eine solche Zusammenschau des Gegensatzes auf der Höhe heutiger Theorienbildung ist uns die moderne Physik noch schuldig. Dass der Zusammenhang zwischen diskret und kontinuierlich für die heutige Physik noch nicht ganz klar ist, zeigt sich darin, dass sich die Quantentheorie — in der auch Kräfte als Austausch diskreter Teilchen beschrieben werden — in ihrer bisherigen Form nicht mit der Allgemeinen Relativitätstheorie vereinen lässt. Letztere ist eine Theorie der Schwerkraft, welche aber nicht auf irgendeinen Austausch zurückgeführt wird, sondern auf Krümmungen der Raumzeit. In dieser Theorie gibt es keine Quanten, ja überhaupt nichts Diskontinuierliches, alles was es gibt ist die kontinuierliche Raumzeit und ihre Krümmungen. Die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die Wirkung und Bedeutung der Schwerkraft, doch nur im Großen, ihre Wirkung im Kleinen zu beschreiben, was die Aufgabe der Quantentheorie wäre, ist noch nicht gelungen. Die ansonsten erfolgreiche Quantentheorie, Basis unserer gesamten elektronische Zivilisation, kann uns also nichts über das Schwerefeld sagen, in welches wir alltäglich eingetaucht sind. Zwar bemüht man sich um eine Quantisierung der Schwerkraft, doch abgesehen davon neigt die konventionelle Physik sowieso dazu, der Schwerkraftwirkung im Kleinen überhaupt keine Bedeutung zuzusprechen.
Roger Penrose hingegen misst der Quantengravitation höchste Bedeutung zu, eine, die von der heutigen Physik seiner Ansicht nach nicht einmal im Ansatz verstanden wird. Er sieht in den Quanten der Gravitation nichts Geringeres als die Ursache für die Wirklichkeit, indem das Gravitationsquant aus dem Potential der vielen möglichen Quantenzuständen eines Systems eben einen Wellenzustand auswählt und zur Wirklichkeit werden lässt. In ähnlicher Weise sieht er die Gravitationsquanten jeden Augenblick beteiligt an der Entstehung von Bewusstsein in unserem Gehirn.
Doch zurück zu den Vorsokratikern. Während die vier archaischen Philosophen, Thales, Anaximander, Anaximenes und Pythagoras im wesentlichen von einem Kontinuum ausgehen, Xenophanes das unwandelbare Naturgesetz als die Eine Gottheit erkennt, Heraklit, Parmenides und Zenon von Elea die Streitfrage erörtern, ob nun dem ruhenden Sein oder dem bewegten Werden das Primat zuzusprechen ist, taucht mit Empedokles, Anaxagoras, Leukipp und Demokrit die Vorstellung auf, das Seiende wäre in eine Vielfalt von Elementen geteilt.
Bei Empedokles sind es die vier Arten von Teilchen der Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft, welche durch die beiden Kräfte Liebe und Streit bewegt ein evolutives Spiel entfalten. In der heutigen Physik gibt es ein ähnliches Konzept, nur handelt es sich hier um 4 Arten der Wechselwirkung — Gravitation, Elekromagnetismus, starke und schwache Kernkraft — und um zwei Arten von Materiequanten — Quarks und Leptonen. Darüber hinaus hat aber Empedokles auch biologisch gedacht, in Begriffen von Mutation, Verbindung und Entwicklung, und hat damit als erster zwei Konzepte umrissen, die wir heute als Chemie
und Evolution
bezeichnen würden.
Bei Anaxagoras wiederum ist das Elementare eine unendliche Anzahl von verschiedenen Teilchen, für jede Qualität der Erscheinungswelt eine eigene Art Teilchen für Gold, Teilchen für Fleisch, Teilchen für Augen, Teilchen für Holz etc. Dabei ist jedes dieser Teilchen unendlich teilbar wie ein Hologramm, in jedem von ihnen sind alle anderen Arten von Teilchen keimhaft vorhanden. Zu diesen Spermata der Materie kommt aber noch eine besondere Art von Spermata, jene des Geistes als eine besonders subtile Art von Teilchen, welche der Bewegung und unterscheidenden Erkenntnis fähig sind.
Während also Empedokles eine Unterscheidung von Stoff und Kraft vornimmt, trifft Anaxagoras als erster eine von Geist und Materie. Derartige Unterscheidungen gibt es bei den Atomisten Leukipp und Demokrit schließlich nicht mehr, alles ist in den Atomen selbst vorhanden. Keine von den Atomen unterschiedene geistige oder sonstwie geartete Kraft oder Substanz ist notwendig, um die Atome zur Gestaltung der Erscheinungswelt anzutreiben, denn jedes Atom verfügt über einen Schlag
, also über einen Bewegungsimpuls, wie wir heute sagen würden, welcher für alle Dynamik der Höherorganisation verantwortlich ist.
Man kann die antiken Atomisten als die Ahnherrn eines Reduktionismus sehen, in welchem aller Geist aus der Materie vertrieben ist, doch genauso als Vorläufer des Konzepts der Selbstorganisation des Komplexen aus dem Einfachen. Demokrit ist uns als der lachende Philosoph
überliefert, offenbar führte ihn seine Erkenntnis zu heiterer Lebensbejahung. Denn der atomistische Reduktionismus führt nicht zwangsläufig zu einer Entwertung der Erscheinungswelt im Sinne der zynischen Nothing but
-Philosophie, die als Gipfel aller Erkenntnis meint, Es sind ja nichts als Atome, nichts als Moleküle!
. Vielmehr kann die Quintessenz der atomistischen Schau auch darin bestehen, zu begreifen, dass das Wesen aller komplexen Wirklichkeit bereits im Einfachen vorhanden ist.
Wie alle Vorsokratiker suchten auch die Atomisten nicht so sehr Wissen im analytisch-strategischen Sinn, sondern Weisheit. Ihnen ging es nicht nur um die Suche nach Daten, Fakten und stimmigen Theorien, sondern um die Erkenntnis des Wesens der Wirklichkeit und die Erkenntnis des Sinnes. Eine solche Erkenntnissuche schließt somit auch die Suche nach Antworten auf Fragen des subjektiven Lebens ein, was ja niemals Teil des modernen wissenschaftlichen Vorgehens ist, jedoch als ein nicht zu unterschlagendes Moment der philosophischen Intentionen der Vorsokratiker zu gelten hat.
Wenn aber das Wesentliche das Atom ist, dann ist dieses der Sinnträger des All, da es in allem vorzufinden ist. Doch in welcher Weise kann es dies sein, welche Lebensweisheit lässt sich aus der Erkenntnis der Atome ableiten, auf welche Art ist Einstimmung auf den Sinn der Wirklichkeit hier möglich? Was bei einer solchen Fragestellung natürlich vorausgesetzt ist, ist die Überzeugung, dass die selben Ordnungsprinzipien, die auf der untersten Stufe der Skala der kosmischen Größenordnung wirksam sind, auch auf den höheren Stufen wirken. Während die konventionelle Naturwissenschaft etwa bestreiten wird, dass die Ordnungsstruktur des Atoms etwas mit jener des menschlichen Bewusstseins zu tun hat, wird im hermetische Ansatz, der den folgenden Betrachtungen zugrunde liegt, genau nach solchen Bezügen gesucht, getreu dem Grundsatz der Hermetik, wie er gleich am Anfang der Smaragdtafeln
des ägyptischen Merkurs, Hermes Trismegistos formuliert ist:
Es ist wahr, ohne Zweifel und gewiss: das Untere ist gleich dem Oberen, und das Obere gleich dem Unteren, zur Vollendung der Wunder des Einen.
Was hier als unbezweifelbarer Glaubenssatz und Dogma formuliert ist, wird später bei Pythagoras zur mathematischen Wahrheit. Das von ihm entdeckte und mathematisch formulierte Gesetz der Oktave wurde fortan die theoretische Basis des aller Esoterik zugrundeliegenden analogen Denkens. Und mit der modernen Chaostheorie gewann dieses Gesetz als das Prinzip der Skaleninvarianz eine Neuformulierung und ungeheure Erweiterung. Skaleninvarianz bzw. Selbstähnlichkeit hat sich als das offenbar stärkste Ordnungsprinzip erwiesen, verschiedenste Wirklichkeitsbereiche durchdringend, sich in unterschiedlichsten materiellen Substraten verwirklichend. So ähneln die Verzweigungen des Blitzes denen eines Flussdeltas genauso wie denen der menschlichen Blutgefäße oder Nervenzellen. Was sie gemeinsam haben, ist offenbar ihre Form. Diese ist aber nicht nur der anschauenden Intuition zugänglich, vielmehr hat die moderne Chaosforschung jene Mathematik entdeckt, welche die skaleninvarianten Ordnungsmuster erzeugt. Selbst Formen, deren Beschreibung der herkömmlichen Mathematik völlig unzugänglich waren, können durch die Chaosmathematik reproduziert werden — etwa das erwähnte Verzweigungsmuster von Blitz und Blutgefäßen, die Form von Wolken, Küstenlinien oder Planetenoberflächen, die Zeichnung eines Tigerfells genauso, wie das Langzeitverhalten einer Tierpopulation, das Verhalten von Wassermolekülen in einem turbulenten Strahl ebenso wie die Verteilung der Sterne in einer Galaxie. Der pythagoräische Gedanke, dass die Zahl das zeugerische Prinzip der Natur ist, hat durch diese neuen Entwicklungen eine starke Bestätigung erfahren.
Ein skaleninvariantes Muster ist aber auch die Struktur des Atoms. Viele Stufen oberhalb der atomaren Größe ist sie als Ur-Gestalt der Ganzheit und als Basisstruktur aller menschlichen Erkenntnis und Bewusstwerdung einsichtig. Der Kern und die sieben Elektronenniveaus spiegeln sich wieder als die Achtfältige Struktur des Gewahrseins mit seinen sieben Bewusstseinsinhalten empfinden, denken, fühlen, wollen, Körper, Seele und Geist.