Schule des Rades
Dago Vlasits
Wissenschaft vom Ursprung ist der Ursprung von Wissenschaft
Drei Dimensionen sind nicht genug
Zu zeigen, dass nur dem einen, unwandelbaren Sein Wirklichkeit zukommt, und dass die Annahme von Vielheit, Raum und Bewegung zu Ungereimtheiten im Denken führt, stellte sich der um etwa 20 Jahre jüngere Schüler des Parmenides, Zenon von Elea, als Aufgabe. Er gilt als Erfinder der Dialektik und verwendete als erster das Verfahren des sogenannten indirekten Beweises. Dabei gab er dem Gegner seine Grundannahmen zu, führte ihn schlussfolgernd in unhaltbare Widersprüche und somit zur Aufgabe seiner Grundannahme. Betrachten wir seine berühmt gewordenen Aporien, in welche das Denken gerät, wenn es Bewegung als kontinuierliches Gleiten von einem Zustand in einen anderen verstehen will. Achilles kann die vor ihm gestartete Schildkröte niemals einholen, behauptet Zenon. Wenn der schnellfüßige Held am Startpunkt der Schildkröte eintrifft, ist diese bereits ein Stück weiter gekommen. Wenn Achilles ihren nächsten Ausgangspunkt erreicht hat, hat sie wieder eine bestimmte Strecke zurückgelegt usw. Die Grundannahme, welche Zenon ad absurdum führen will, ist jene von der unendlichen Teilbarkeit des Raumes, welche die unabdingbare Voraussetzung für die kontinuierliche Bewegung bildet. Unter dieser Voraussetzung kommt Achilles eigentlich nie vom Fleck. Um von A nach B zu gelangen, muss man zuerst die Hälfte dieser Strecke zurücklegen, um diese Hälfte zu überwinden, die Hälfte der Hälfte, vorher noch die Hälfte der Hälfte der Hälfte… ad infinitum. Die kleinsten Teile eines solchen Raumes sind ausdehnungslose Punkte, doch selbst wenn man unendlich viele davon aneinanderfügt, kommt man nie zu einem ausgedehnten Kontinuum, sondern verbleibt immer in der Dimension 0 des ausdehnungslosen Punktes. In alle Ewigkeit bewegt man sich nicht aus ihm heraus. Also: Augenscheinlich gibt es natürlich Bewegung. Da deren denkerische Behandlung aber zu Absurditäten führt, jedoch nur das Denken uns Wahrheit vermittelt, kann es sich bei der Bewegung und der Teilbarkeit des Raumes — und somit beim leeren Raume überhaupt — nur um eine Illusion handeln, folgert Zenon. Nur das unteilbare Sein ist real.
Die von Parmenides geforderte Seinserfahrung meint wohl eine Erleuchtung, die Raum und Zeit transzendiert. Auf jeden Fall hat er darin recht, dass das Denken nur durch wahre Seinsurteile zur Ruhe kommt. Werden diese aber im Bereich der Sinneserfahrung angewandt, wo zwangsläufig räumliche Ausdehnung und Bewegung vorausgesetzt werden, kommt es zu Widersprüchen, wie Zenon noch beredter als sein Meister zum Ausdruck brachte. Reicht aber der logische Widerspruch aus, um die sinnliche Realität als Illusion zu verwerfen? Die heutigen Physiker kommen mit Paradoxa ganz gut aus, doch Zenon würde die Welle-Teilchen-Dualität als schlagenden Beweis für den illusionären Charakter der Materie verwenden. Und für Parmenides wären wahrscheinlich nicht nur die Masse, sondern auch die Quantenphysiker der blöde glotzende, urteilslose Haufen… für die es bei allem (gleichzeitig) einen umgekehrten Weg gibt.
Seiner Überzeugung nach entsteht die Illusion der Erscheinungswelt dadurch, dass der Mensch das Nicht-Sein denkt, welches Parmenides mit dem leeren, unendlich teilbaren Raum identifiziert. Diese falsche Wahl ermöglicht dann nach Ansicht der Eleaten den Schein von Vielheit und Bewegung.
Mit Zenon und Parmenides kommt der Mensch tatsächlich an einen Scheideweg, er muss sich entscheiden, ob er die sinnliche Wirklichkeit als wesenhaft begreifen oder als Täuschung abtun will. Entscheidet er sich für das erstere, ohne dabei das Denken vorzeitig an der Garderobe abzugeben, wartet noch eine Menge begrifflicher Klärungsarbeit auf ihn. Er wird aber auch das Nichts und die Leere denken müssen, welche Parmenides vom logischen Standpunkt als paradox verteufelte. Das eigentliche Problem liegt in der parmenidischen Gleichsetzung des Nichts mit dem leeren Raum, und dass die aktuale Wirklichkeit in diesem dreidimensionalen, unendlich teilbaren Volumen gedacht wird. Mit Parmenides und Zenon wird man nur fertig, wenn dieses naive Raumverständnis aufgegeben wird. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass mit dem vierdimensionalen Raum der Pythagoreer und ihrer Zahlenlehre bereits der Lösungsansatz vorliegt. Im folgenden wollen wir aber einen zeitgenössischen Weg andeuten, wie man dem zenonschen Dilemma entkommen kann.
Nach Ansicht der Eleaten sollte also Bewegung, das Hauptthema der Physik, nicht wirklich existieren, was sie auch logisch wohl begründet hatten. Dieser unerträgliche Zustand schien mit der Entwicklung der Infinitesimalrechnung durch Leibniz und Newton beendet zu sein, und man glaubte, dem lästigen Zenon endgültig das Handwerk gelegt zu haben. Erst jüngst haben aber Eisenhardt, Kurth und Stiehl darauf hingewiesen, dass das Bewegungsproblem, das Problem von Veränderung und somit auch jenes der Emergenz, also die Entstehung von neuen Dingen, längst nicht gelöst ist. Die Aktualität Zenons besteht darin, dass er noch immer seiner Widerlegung harrt. Im Grunde geht die Infinitesimalrechnung von der selben Raumvorstellung aus, die Zenon durch logisches Schließen als unhaltbar erweist. Mit der sogenannten Grenzwertbildung der Infinitesimalrechnung wird in den kontinuierlichen, unendlich teilbaren Raum ein diskretes Moment eingeführt, was aber keiner physikalischen Realität entspricht, sondern ein mathematischer Trick ist. Das Problem, welches hier elegant umgangen wird, können wir uns noch einmal an einer anderen zenonschen Aporie vergegenwärtigen: Der fliegende Pfeil ruht. Jedes Bewegte nimmt in jedem Augenblick einen Ort ein, die Behauptung, ein Körper bewegt sich jetzt, kann nicht wahr sein. Entweder er ist an keinem Ort, oder er ist an zweien zugleich, beides vorerst einmal widersinnige Behauptungen. Doch nur hier kann die Lösung des Problems liegen. Eisenhardt und Stiehl erinnern sich in ihrer naturphilosophischen Untersuchung (Du steigst nie zweimal in denselben Fluss
) an die Leibnizsche Erklärung der Bewegung als diskrete Sprünge, die Transcreation. Hier ist nun nicht nur die Lösung des Bewegungsproblems in Sicht, sondern auch jenes der Entstehung neuer Dinge, Bewegung und Emergenz sind wesentlich das gleiche. Gemäß diesem Konzept wird ein Körper an einem Punkt des Raumes vernichtet, und an einem anderen wiedererschaffen, zwischen den Punkten A und B ist absolut nichts, keine unendlich vielen weiteren Punkte, mit denen Zenon sein Unwesen treiben könnte. Leibniz nimmt selbstverständlich auch ein unendliches Punktkontinuum an, doch als reine Potentialität. In der Aktualität sind Punkte für ihn immer nur singuläre Ränder
real erscheinender Dinge.
Was ist aber der Grund für dieses singuläre Entstehen und Vergehen? Nun, für Leibniz ist natürlich Gott dafür verantwortlich, die drei jungen Wissenschaftler wollen sich hingegen dieser Hypothese vorerst noch enthalten. In einem fingierten Dialog weist aber der Philosoph die drei darauf hin, dass bei der Transcreation der Satz vom zureichenden Grunde nicht zu halten ist, wenn es nicht etwas Bleibendes gäbe, was sowohl den Zustand A vernichtet, als auch den Zustand B erschafft, denn B folgt nicht kausal aus A. Was soll aber dieses Bleibende
und Zugrundeliegende, dieser Hintergrund sein? Nun… nichts. Dieses Nichts hat sich schon weiter oben kurz gezeigt, als das Intervall zwischen den singulären Punkten A und B, das absolut Nichts zwischen ihnen. Ist mit der Idee der diskreten Sprünge nun Zenon widerlegt? Natürlich nicht, er hat uns vielmehr gezwungen, den leeren dreidimensionalen Raum als Grundlage von Bewegung und Veränderung aufzugeben. Andererseits haben wir das Nichts zugelassen, welches wir aber nicht mit dem leeren dreidimensionalen Volumen identifizieren, und uns auf die Seite eines Heraklit und eines Pythagoras geschlagen, die das Nicht-Sein bzw. die Null als Urpotenz verstehen.
Wir haben also gewisse Konzessionen an Parmenides und Zenon gemacht. Die naive Vorstellung der Wirklichkeit als dreidimensionales Kontinuum wurde aufgegeben, der Raum besteht jetzt aus diskreten Zellen, die verschiedene Zustände annehmen können und jeder dieser Zustände ist für den Augenblick ein ruhendes Sein. Auf dieser Grundlage kommen die drei erwähnten Autoren zu einem Wirklichkeitsbild, welches einer Leuchtreklame ähnelt. Die unterschiedlich aufleuchtenden Lampen können Bewegung und sich verändernde Formen darstellen. Gibt es aber in der tatsächlichen Physik ähnliche Vorstellungen? Im Rahmen der Feldtheorien werden Teilchen und Kräfte längst als Anregungszustände des jeweiligen Feldes verstanden, ein scheinbar beharrendes Atom wird jeden Augenblick vernichtet und wiedererschaffen. Auch der sogenannte Quantensprung, dass nämlich ein Elektron an einem Ort verschwindet, und an einem anderen wieder auftaucht, wird auf dieser Basis erklärt. Die Quantentheorie ist aber für Kurth, Eisenhardt und Stiehl zu speziell und auf komplexe Erscheinungen nicht anzuwenden. Ein allgemeines Konzept für Bewegung und Emergenz sehen sie in der fraktalen Geometrie. Dabei wird etwa eine einfache Bewegung nicht durch eine kontinuierliche Linie dargestellt, auf welcher sich ein Körper bewegt, sondern durch eine vielfach gebrochene Linie, wie beispielsweise das Cantor-Diskontinuum. Eine solche Linie besteht hauptsächlich aus Lücken, in ihr wechseln sich gleichsam Nichts und Etwas dauernd ab. Diese Struktur ist dann natürlich nicht als die Bahn eines bewegten Körpers zu verstehen, sondern als ein geometrisches Bild der leibnizschen Transcreation.
In der Mathematik wird das Kontinuum als bloße Hypothese betrachtet und Kurth, Eisenhardt und Stiehl bestreiten wie die meisten Naturwissenschaftler dessen reale Existenz. Alle Wirklichkeit ist durch das diskrete Wirkungsquant bestimmt, für ein homogenes, kontinuierliches Ganzes scheint es im realen Raum keinen objektiven Anhaltspunkt zu geben. Es sei aber hier erwähnt, dass die Relativitätstheorie von einem Kontinuum ausgeht, und dass zudem die Vereinigung der beiden fundamentalen Theorien der Physik, eben der Relativitätstheorie und der auf diskreten Einheiten aufbauenden Quantentheorie, noch immer nicht gelungen ist.
Wo in einer Konzeption des gebrochenen bzw. quantisierten Raumes trotzdem die Vorstellung des Kontinuums ihren Platz finden kann, wollen wir im letzten Kapitel diskutieren. Dabei werden wir uns auf das Chi der chinesischen Philosophie besinnen, welches den subjektiven Zugang zum Raum als kontinuierliche Urkraft ermöglicht. Wir sind aber schon viel zu weit vorausgeeilt und haben bereits moderne Versuche behandelt, die den Streit zwischen Heraklit und Parmenides, zwischen Werden und Sein zu schlichten versuchen. Bevor nämlich Fraktale, Quantensprünge, Singularitäten und gequantelter Raum gedacht werden konnten, musste überhaupt erst einmal die Idee des Elements erfunden werden. Das diskrete Element, aus welchem sich die Wirklichkeit kombinatorisch aufbaut, haben als erste Anaxagoras, Empedokles, Leukipp und Demokrit gedacht. Diese ursprünglichen Versuche, das parmenidische Sein und das Heraklitische Werden mit Hilfe des Element- und Atombegriffs zu versöhnen, wollen wir im folgenden betrachten.