Schule des Rades
Dago Vlasits
Wissenschaft vom Ursprung ist der Ursprung von Wissenschaft
Die Symmetrien der Null
Bereits der Nachfolger von Thales, Anaximander von Milet (611 - 546), wird von heutigen Kommentatoren als ein früher Höhepunkt wissenschaftlichen Denkens gefeiert. In ihm bekundete sich beispiellos die Kraft menschlichen Abstraktionsvermögens, er entwirft als erster eine Erdkarte und konstruiert einen Himmelsglobus, und zum ersten Mal wird von ihm die Erde als frei schwebend im Weltall gedacht, wenn er sie auch als flachen Zylinder sieht. So geht auch sein Begriff des Urprinzips über das Sinnliche hinaus, es ist das Apeiron, das Unendliche. Im Gegensatz zum anschaulichen, immanenten Prinzip des Wassers von Thales ist das Apeiron unbegrenzt und unbestimmt. Hier wird zum erstenmal begrifflich das gefasst, was eigentlich unbegreiflich ist. Anaximander bemächtigt sich mittels des Denkens nicht nur des Unanschaulichen, sondern wagt den Sprung zu etwas, was als ein Bestimmtes undenkbar ist. Wie zeigt es sich nun trotzdem in unserem Bewusstsein? Jede sinnliche Erfahrung ist eine endliche Größe. Fasse ich aber ein Endliches im Denken, ist es offensichtlich, dass dessen Rand
an ein Größeres stößt und dieses wieder an ein noch Größeres usw. Das Denken kommt an kein Ende bzw. weist auf das Unendliche. Für Anaximander ist es der ungewordene Urgrund, welcher alles umfasst und dem Werden kein Ende setzt. Aus dem unendlichen Regressionsvermögen des Denkens allein gewinnt man aber nicht zwangsläufig die Gewissheit des Urgrundes, wie es Anaximander noch konnte, welcher das Unendliche als göttliche Urpotenz verstand. Dem Denken gegenüber kritischer eingestellte Zeiten wie die unsere sehen darin eher das Unvermögen des Denkens, zu sinnvollen letzten Aussagen über die Wirklichkeit zu kommen. Betrachtet man aber das Verhältnis von unendlichem Urgrund und endlicher Erscheinungswelt, wie Anaximander in seiner Lehre von den Gegensätzen artikuliert hat, sind Parallelen zur heutigen Physik nicht zu übersehen.
Nach Anaximander stammt aus dem Unbestimmten und Unendlichen alles Bestimmte und Endliche, wobei die endlichen Dinge ihr Sein aus ihrem jeweiligen Gegensatz beziehen. Das Große verdankt sich dem Kleinen, das Schöne dem Häßlichen und umgekehrt. Die einzelnen Dinge gehen aber nicht auseinander hervor, sondern durch Ausscheidung der Gegensätze aus dem Unendlichen, in welches sie auch wieder zurücksinken. Dies mutet wie eine Vorwegnahme des Symmetriebegriffes an, welcher in der modernen Physik eine zentrale Rolle spielt. Denn es entspricht genau der Natur der Gegensätze des Anaximander, wenn sich positive und negative Ladungen zu Null kompensieren, oder wenn die Kraft der Expansion des Urknalls als Anti-Gravitation begriffen wird, welche die kontrahierende Gravitation aufhebt. In der heutigen Physik wird das Erscheinen aller Kräfte und Teilchen auf sogenannte Symmetriebrüche zurückgeführt, welche sich im Urknall vollzogen haben. Würde man all diese Brüche wieder aufheben, gelangt man zu einer ursprünglichen Symmetrie, welche keine besondere Bestimmung mehr besitzt, da nichts mehr unterschieden werden kann. Der mathematisch einfachste Ausdruck dieser Symmetrie ist die Nullheit, und der einfachste Symmetriebruch das Auftreten einer positiven und einer negativen Größe, 0 = + 1 − 1. So wie das unbestimmte Apeiron die Gegensätze und somit die Erscheinungswelt gebiert, so ist auch die höchste Symmetrie der modernen Physik mannigfaltiger Symmetriebrüche fähig, welche die bekannten Energien und Teilchen hervorbringen.