Schule des Rades
Dago Vlasits
Wissenschaft vom Ursprung ist der Ursprung von Wissenschaft
Quantität = Qualität
Der dritte der milesischen Schule, Anaximenes (? - 525) gelangte zu der Vorstellung, dass die Luft den Uranfang bildet. Gegenüber der Ur-Potenz des Unendlichen scheint dies erst einmal wie ein Rückschritt. Doch der Schüler des Anaximander vereint die Bestimmtheit der anschaulichen Substanz des Thales mit dem Unendlichen seines Lehrers. Die Luft wird von ihm als unendliche Größe verstanden, wobei alle Dinge gleichsam in ihr baden und durch unterschiedliche Grade der Verdichtung aus ihr hervorgehen. Historisch bedeutsam ist hier der Gedanke, dass sich alle unterschiedlichen Qualitäten der Wirklichkeit auf unterschiedliche Quantitäten zurückführen lassen. In vielfältiger Weise fand dieses Konzept in unserem Jahrhundert seine Bestätigung. So wurde erkannt, dass die Anzahl der Protonen im Atomkern die Art des Stoffes bestimmt. Die Idee des qualitativen Sprungs durch Änderung der Quantität ist in der Physik zudem als sogenannter Phasenübergang bekannt, wenn etwa durch Erhöhung oder Verminderung der Temperatur eine Substanz ihren Aggregatzustand ändert. Selbst der Grundsatz des ganzheitlichen und systemischen Denkens, dass nämlich das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, folgt diesem Muster. Ein Wald ist beispielsweise nicht bloß eine Ansammlung von Bäumen, sondern diese bilden einen höheren Systemzusammenhang, mit Eigenschaften und Funktionen, die dem einzelnen Baum nicht zukommen. Anaximenes eröffnete den Weg, auf welchem die Mathematik bis heute voranschreitet, um die Welt nicht nur zu zählen und zu messen, sondern ihre komplexesten Eigenschaften und die Schönheit ihrer Formen zu erfassen, wie es die moderne Chaostheorie und fraktale Geometrie sich anschickt zu tun.