Schule des Rades
Dago Vlasits
Wissenschaft und Weisheit
Grenzzyklus – Attraktor − 0 −
Schrumpfen zwei Dimensionen, und bleibt eine stabil, so haben wir die eindimensionale Kreislinie, welche für die Anschauung in der zweidimensionalen Ebene erscheint. Alle Systeme, bei denen Wiederholung und Reproduktion feststellbar sind, liegen auf einem Grenzzyklus-Attraktor. In dieser Kreisläufigkeit erkennen wir die Grundlage von Gedächtnis, ein System erinnert sich gleichsam in der Wiederholung immer wieder seiner Form. Diese elementare Gedächtnisleistung ist die Basis des Bewusstseins.
Ein Pendel, das von außen angetrieben nicht zur Ruhe kommt und ewig seine gleichbleibende Schwingung wiederholt, ein kreisender Planet, welcher immer wieder an seinen Ausgangpunkt zurückkommt, liegen genauso auf einem Grenzzyklus-Attraktor wie ein einmal verstandener und jederzeit abrufbarer Satz oder ein erlerntes Verhalten, welches eine einsetzbare Strategie genauso wie eine leidvolle Fixierung sein kann. Die menschliche Domäne des Grenzzyklusattraktors ist also einerseits das Denken mit seinen reproduzierbaren Inhalten, andererseits die Verhaltensweisen der Seele in der zwischenmenschlichen Beziehung.
Ganz allgemein lässt sich sagen, dass das periodische Gleichbleiben eines Phänomens oder Wesens die Voraussetzung seiner Identität und Identifikation ist. Somit wird der Kreis auch als traditionelles Urbild des Erkennens einsichtig. In welcher Weise der regelmäßige Puls die Voraussetzung der bewussten Erkenntnis ist, wollen wir uns in der Schallwelt vergegenwärtigen. In einem Chaos von unendlich vielen Tönen ist für das Ohr nichts zu unterscheiden. Dieses Chaos wäre wie das Nichts der Stille. Erst wenn sich von diesem Hintergrund etwas Kontinuierliches, sich in der Wiederholung Gleichbleibendes abhebt, kann ich vernehmen und erkennen. Man mag einwenden, dass sich ja auch eine freie Melodie abhebt und erkennbar ist, und diese besteht nun ganz im Genteil aus diskontinuierlich aneinandergereihten Tönen. Doch damit sind wir schon einige Schritte zu weit. Das Erkennen beginnt mit dem Ton, und dieser ist nichts anderes als eine regelmäßige Schwingung.
Auf regelmäßige Schwingungen war auch das früheste Erkenntnisstreben der Menschheit gerichtet, namentlich auf die Rhythmen von Tag, Monat, Jahr und die anderen Bewegungen des Sternenhimmels. Dies dürfen wir nicht als durch primitiven Aberglauben motiviert sehen, sondern vielmehr kommt darin die entscheidende Erkenntnis überhaupt zum Ausdruck, dass nämlich alle erkennbare Ordnung den regelmäßigen Rhythmen der Zeit entstammt.
So ist die sinnvolle Integration des Grenzzyklus beim Menschen die Vollendung seines Denkens im Rad, seelisch aber die Fähigkeit, hinter die zwanghaften Rollen des gesellschaftlichen Spiels zu treten, um echte Begegnung zu erleben. Negativ ist der Kreis im Denken das Mitgerissenwerden in der Wiederholung, eine Identifikation mit der Peripherie, mit einem Gedanken. Positiv ist der Kreis im Denken die Anordnung aller Wissensinhalte um die subjekthafte Mitte, in welcher das Denken immer wieder seine Ruhe und Vollendung findet. Zwanghafte Wiederholung ist auch seelisch die negative Entsprechung des Grenzzyklusattraktors. Sucht der Mensch nicht die leere Mitte seines Seelenkreises, wird er von den erlernten Verhaltensweisen immer wieder mitgerissen. Diese seelischen Fixierungen haben die sechs Rollen von Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn und Tochter als Grundlage. Seelische Befreiung bedeutet in die Mitte des Beziehungskreises und hinter die Rollen zu treten, nicht mit ihnen identifiziert zu sein, sondern sie als mögliche Funktionen der Seele zu begreifen.