Schule des Rades
Dago Vlasits
Vom Sinn der Zahl - Teil I
Nicht – Wissen
Die mystische Wahrheit ist nun kein Satz oder eine Summe von Sätzen, sondern das Gewahrwerden der Ganzheit, im Yoga als Samadhi bezeichnet. Hierbei handelt es sich nicht um Ekstase, wie es etwa gewisse schamanische Praktiken ermöglichen, sondern um Enstase, vollkommenes In-sich-sein
, welches gleichzeitig ein Im-All-Sein
ist. Wir wollen es begrifflich als Gewahrsein und — unseren Ausführungen etwas vorauseilend — das Gewahrseinssubjekt mathematisch als Null bestimmen.
Das nullhafte Gewahrsein ist Samadhi, Satori, das weiße Land der Buddhisten, die kreisende Insel Avalon. Es ist kein Ziel der Wissenschaften, welche Wissen und somit Bewusstsein mehren. Im Erreichen des Gewahrseins ist Wissen, welches ja immer nur konservierte Vergangenheit sein kann, überwunden. Wenn dies aber das Ziel aller Weisheit ist, so stellt sich die Frage, inwieweit das Wissen überhaupt eine positive Rolle auf der Suche nach Weisheit spielen kann. So hat etwa der Zen-Buddhismus allem Wissen radikal entsagt und sucht in der Meditation von Koans die Rationalität zu sprengen. Wenden wir uns nach Europa, so finden wir Sokrates als Urbild des Weisen. Auch er sieht im Nicht-Wissen das Ziel der Philosophie, auch er wurzelt in der Leere wie der mystisch Versunkene. Doch sein Weg ist kein Abwerfen des Denkens, sondern denkend hinterfragt er, und fragend durchstößt er immer wieder die Grenzen des Denkens und gelangt zu einem Anderen, zur Wahrheit die ewig neu ist. Indem er die Relativität oder gar Falschheit vermeintlich sicheren Wissens offenbar macht, verunsichert und erschüttert er seine Mitmenschen, die einen ihn fliehend und verfluchend, die anderen durch ihn die göttliche Wahrheit schauend.
Wenngleich nun das Denken der Weg des Sokrates ist, ist nicht das Erreichen eines gesicherten Systems der Weisheit Ziel seiner Bemühung. Gewissheit hat er nur im Wissen seines Nicht-Wissens, und unerschütterlich ist sein Glaube an das Göttliche, auf welches hin er im ideal-orientierten Handeln sein Leben wagt. Dieses Göttliche wiederum offenbart ihm keine absoluten Lebensregeln, sondern ist die innere Stimme seines Daimonions, welches nur in der Verneinung eindeutig ist. Es sagt ihm nicht, was er tun, sondern was er unterlassen soll.
Und doch wird uns auch das sokratische Werk zu einer positiv bestimmbaren Position und Lehre. Dies gilt letztlich für alle philosophischen Aussagen, mögen sie noch so paradox formuliert sein und in einander folgenden Negationen ihre eigenen Behauptungen immer wieder relativieren und sie als uneigentlich hinstellen. So spricht Lao Tse: Das Tao, das ausgesprochen werden kann, ist nicht das ewige Tao
, und Nagarjuna etwa behauptet die Widerlegbarkeit aller Behauptungen, in deren Vollzug erst die Wahrheit erreichbar ist. Zumindest in der Mitteilung muss also immer wieder auf das Denken zurückgegriffen werden, selbst wenn dessen Überwindung das Ziel ist.
Sokrates, der weiß, dass er nichts weiß, ist der weiseste aller Griechen
kündet das Orakel von Delphi, womit auch er das Ideal des Weisen erfüllt, von welchem der Tao Te King
sagt, dass ohne Kenntnisse bleiben kann, wer mit klarem Blick alles durchschaut. Was ist aber nun die Lehre des Sokrates? Aristoteles bezeichnete ihn als den Erfinder des Begriffs, denn er erweiterte die Dialektik durch die Einführung der Definition. Die Ethik, welche er dem sophistischen Relativismus seiner Zeit entgegenhielt, gründet auf dem Begriff der Tugend und dem Streben nach Vollendung, das in den 4 Idealen Schönheit, Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit seine ins Unendliche weisende Richtung hat. Seine theoretische und methodische Grundlage hat dieses Streben in der Induktion oder Mimesis, um welche Sokrates ebenfalls das philosophische Denken bereichert hat. Es ist die Kunst, aus dem Unvollkommenen auf das Vollkommene, vom Abbild auf das Urbild zu schließen, wie es Platon anhand des Kreises erläutert hat. Kein Kreis in unserer sinnlichen Erfahrung entspricht einem idealen Kreis, und doch ist uns das geometrisch vollendete Bild zugänglich.
Aber eben nicht das Lehren einer Systematik, sondern das Erwecken der Menschen ist das wesentliche Anliegen des Sokrates. Ihm ist Philosophie eigentlich Erziehung, welche sich im echten Dialog immer vollzieht. Dabei handelt es sich nicht um Belehrung, sondern um Anamnese und Maieutik. Wie der Bildhauer die im Stein verborgene Gestalt befreit, findet der Mensch im Durchschauen und Hinterfragen des Scheinwissens das in ihm angelegte Wissen. Dieses ist dann nicht durch logischen Beweis von außen erzwungen, sondern nun als selbstverständlich in der lebendigen Einsicht geschaut. Wahre philosophische Erkenntnis verwandelt den Menschen, indem sie sein Wesen enthüllt. Was bei diesem Prozess der Mensch dem Mitmenschen sein kann, ist Geburtshelfer, Maieutiker, der bei der Entbindung dieses neuen Wesens hilft. Sokrates selbst bezeichnete sich als unfruchtbar an Weisheit und ließ sich den Vorwurf gefallen, dass er bloß fragt. Aber dadurch machen alle, denen Gott es vergönnt, im Verlauf unseres Verkehrs wunderbare Fortschritte, offenbar ohne von mir etwas gelernt zu haben. Die Entbindung aber ist des Gottes und mein Werk.