Schule des Rades

Dago Vlasits

Vom Sinn der Zahl - Teil I

Musik

Wir werden die vielfältigen Zusammenhänge dieser Tafel an anderer Stelle erörtern und sie vorerst einmal einfach als eine Art Mandala von Begriffen betrachten. Im folgenden werden wir uns dem zuwenden, was Sinn und Ordnung dieser Dinge und die Dinge selbst generiert, der natürlichen Zahl. Damit greifen wir im wesentlichen auf den Ansatz des Vorsokratikers Pythagoras zurück, in welchem die Zahl als das Wesen aller Dinge verstanden wird. Pythagoras und sein Kreis waren die ersten, die sich eingehend mit der Mathematik beschäftigten, ihre Grundlagen aus den Tongesetzen der Musik ableitend. Die Bedeutung, welche sie der Zahl zumaßen, wird heute von vielen aufgeklärten Wissenschaftlern als primitiver Zahlenmystizismus belächelt. Nichtsdestotrotz wollen wir diesen Ansatz ernst nehmen und als Ausgang wählen, um in der Zahl das zu erkennen, was die leidige Trennung von Subjekt und Objektwelt aufhebt. Pythagoras, welchem wahrscheinlich das musikalische Wissen der chinesischen Tradition bekannt war, erkannte wie diese die Musik als Urbild der Sinnerfahrung, womit die Ästhetik der Sinne als Zugang zum Sinn festgestellt war.

Das Gewahrwerden der Zahl und das Gewahrwerden des Sinnes ist dasselbe, und dieses Gewahrwerden hat natürlich grundsätzlich keine mathematischen Kenntnisse zur Voraussetzung. Ergreift mich eine Musik, erlebe ich den Sinn, welcher immer zahlhaft ist, auch wenn ich keine Ahnung von Tonzahlen und Mathematik habe. Musik ist gleichsam eine Architektonik der sich ereignenden Zeit. Der kristallene Gliederbau der Intervalle, wirksam in Rhythmus, Harmonie und Melodie, allesamt mathematisch beschreibbar, ist Sinn und Wesen der Musik.

Um nun den Sinn eines Intervalls wie der Quinte zu erleben, muss ich nicht wissen, dass ihm das ganzzahlige Verhältnis 2:3 zugrunde liegt, im schlichten Hören geht mir der reine, wortlose Sinn auf. Beim Hören zweier Töne in einem irrationalen Verhältnis kann mir dies nicht in gleicher Weise gelingen. Im Ablauf einer Melodie würde mir ein solcher Nicht-Intervall als Störung erscheinen, und des Sinnes würde ich höchstens in indirekter Weise gewahr, nämlich als sein — manchmal gar als quälend erlebtes — Fehlen. Es scheint so, dass so manche moderne Komposition von eben dieser Spannung lebt. Immerhin dürfte auch dies den einen oder anderen dem Sinn näher bringen, als die Leier des längst Bekannten und allzuoft Gehörten. Denn der lebendige Sinn ist kein gesicherter Besitz, sondern wird von Augenblick zu Augenblick neu geboren. Nur eingedenk dieser Wahrheit ist etwa das Bonmot des Wiener Philosophen Burger akzeptabel, der da meint, das Beste am Sinn sei seine Krise.

Dass der Mensch auf den Sinn hin angelegt ist und sich nach ihm sehnt, wird uns in der Untersuchung des Gehörs in anschaulicher Weise verdeutlicht. Es ist bekannt, dass das Ohr auch mathematisch ungenaue Intervalle zu reinen Intervallen rundet und vollendet, sie sind für das Ohr so etwas wie Attraktoren, welche das Chaos der Tonwelt zu sinnvollen Gestalten organisiert.

Um den Sinn in der Musik zu erleben, muss ich nicht bewusst Mathematik betreiben, er wird mir hier genauso einfach zugänglich wie in einem Sonnenuntergang, im Gesang der Vögel oder der Betrachtung einer Blume. (Letzteres war wohl Buddhas schlichteste Belehrung, welche der Überlieferung nach die Tradition des Zen-Buddhismus ins Leben rief). Doch das Leben des Menschen besteht nicht bloß aus ergreifenden Naturerfahrungen, noch sind die Abläufe, in denen er sich findet, rhythmisch, harmonisch und melodisch organisiert, sodass er spontan zu Sinn und Freude Zugang hat. Das Leben nimmt sich allzuoft als eine Kakophonie aus, in welcher einzig der Tod als erlösender Kontrapunkt erscheint.

Dem Menschen das Werkzeug in die Hand zu geben, mit welchem er im Chaos seinen Sinn erschafft, ist nun die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Derart verstandenes Philosophieren ist keine intellektuelle Übung, auch nicht bloß Klärung des Weltbildes, sondern ist die Erschaffung eines unsterblichen Wortleibs. Er ist der Kern, um welchen das Licht geistiger Visionen und die Kraft körperlicher Antriebe zum persönlichen Wesen des Menschen kristallisieren. Wird am Wortleib nicht gearbeitet, droht die imaginale Welt als Wahn und die emotionale Welt der Motive als schmerzvolles Zerbrechen oder Resignieren, welche am Ende auch keine Therapie mehr heilen kann.

Dago Vlasits
Vom Sinn der Zahl - Teil I · 1995
Studienkreis KRITERION
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