Schule des Rades
Dago Vlasits
Zwischen gezweitem Bewusstsein und mystischer Einheit
Vereinigung
In der Meditation der Leere bin ich dem Urgrund vereint. Doch lasse ich davon, sterbe ich aus ihm hinaus in die Welt der Vielen… oder werde ich in diese geboren? Oder ist mir die Welt mitgegeben und mitgeboren? Und bei dieser Gelegenheit, wo die Welt nun schon da ist — gleicht meine Welt Deiner? Reden wir vom Gleichen oder in Ewigkeit von Verschiedenem? Und ist diese Welt überhaupt wirklich, oder nur eine Illusion, weil vom Urgrund entfremdet? Oder ist das Bewusstsein der Entfremdung die Illusion, und die Welt der Vielen ist nie aus dem Urgrund herausgefallen…?
Die Wiedervereinigung mit dem Urgrund gilt als höchstes Gut in den mystischen Übungswegen. Es ist die Überwindung aller Gegensätze, der Born göttlicher Glückseligkeit und das Ende aller Fragen. Daher behandeln die mündlichen und schriftlichen Traditionen der Übungswege vor allem die Methoden und Techniken, wie der Mensch aus dem gezweiten Bewusstsein wieder ins Gewahrsein des einenden Grundes gelangt.
Doch das Herausfallen und Herausdriften aus dem Urgrund ist nicht nur als Verlust der paradiesischen Glückseligkeit zu verstehen, sondern zugleich als die Schöpfung der Welt in Raum und Zeit. Und hat man weniger eine endgültige Erleuchtung im Auge, als vielmehr ein schöpferisches Leben, so ist nicht nur der Sprung zurück in den Urgrund interessant, sondern auch der umgekehrte Weg, nämlich die Entfaltung der Welt der Vielen, die Entwicklung der Raumzeit aus dem Urgrund. Denn einem weltzugewandten Menschen, für den die Erde ein Ort des Göttlichen ist, ist nicht der Gipfelpunkt der Erleuchtung das einzige Ziel seines Lebens, sondern vielmehr die Einstimmung auf den dauernd sich vollziehenden kosmogonischen Prozess, um durch die Teilhabe an der Schöpferkraft am Werk der Erde mitzuwirken.
Schließlich bedeutet die Wiedervereinigung mit dem Urgrund das Gewahrwerden, dass es niemals eine Kluft zwischen Singulär und Allgemein, zwischen Transzendenz und Immanenz zu überwinden gab, ganz im Sinne der Dzogchen-Tradition, dem Herzstück der tibetischen Überlieferung. Als höchste Erkenntnis gilt dort die Einsicht, dass das Gewahrsein des unbegreiflichen Urgrundes und das Gewahrsein der phänomenalen Welt identisch sind.